Einer der Autoren, Pierdomenico Baccalario, dürfte einer Vielzahl von Lesern bekannt sein. Verbirgt er sich doch dezent hinter den bislang erschienenen Ulysses Moore Bänden, in denen die Fiktion von Ulysses Moore als Autor aufrecht erhalten wird (siehe unseren Artikel unter Literaturgenres | Fantasy). Nun also ein neues Buch, das allein durch diesen Autor Spannung aufkommen lässt, auch wenn noch andere Autoren daran beteiligt sind: Enzo d'Alo, Regisseur, Drehbuchautor und Musiker (von ihm stammen unter anderem die Trickverfilmungen von Michael Endes "Momo" und Luis Sepúlvedas "Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte"), der offenbar als erster die Idee zu einem Film mit dieser Geschichte hatte - und in der Tat ist die Verfilmung des Buches nun von ihm in Vorbereitung - sowie Gaston Kaboré, einer der größten Filmemacher Afrikas, mehrfach preisgekrönt. Diese Kombination macht noch neugieriger, und die Neugier lohnt sich. Den Dreien ist ein ausgesprochen spannender, tiefsinniger Roman für junge Leser ab 12 gelungen, der sich jedem festen Genre entzieht. Besonders beeindruckend, wie in sich geschlossen die Geschichte auftritt, in einem Guss, wie aus einer Hand, sodass man nirgendwo einen Bruch sieht, der sich auf unterschiedliche Autoren zurückführen ließe. Vermutlich hat dazu auch die sehr schöne, ausgefeilte Übersetzung von Katharina Schmidt und Barbara Neeb beigetragen, deren Stil sich diesem literarischen Märchen gemessen anpasst. Und um ein literarisches Märchen handelt es sich ganz eindeutig. Der italienische Titel trifft eigentlich noch besser, denn es geht gar nicht so sehr um die Stadt aus Sand selbst, als vielmehr um "Il principe della Città di Sabbia", um den dunklen Fürsten der Stadt aus Sand also, dessen Namen, Sanagò, man nicht aussprechen darf. Sanagò gehört zu den "Bösen" und ist dennoch im Roman eine schillernde, faszinierende Persönlichkeit. Und er ist gefährlich, denn Sanagò raubt den Menschen ihre Seelen, sperrt sie in Flaschen, wie in Tausendundeiner Nacht die Flaschengeister, nicht um sich ihrer Dienste zu versichern, sondern um sie zu trinken und so immer mächtiger und vitaler zu werden. Zurück bleibt der schlaffe, tote Körper der so Geschädigten. Angst hat der Fürst nur vor einem: vor den Geschichtenerzählern und -sängern, die mit ihrem eindringlichen Vortrag in den Leuten Träume und Gefühle wecken, und das kann er nicht brauchen, denn sie könnten zu mächtig werden und seine Stellung gefährden. Eines Tages findet ein öffentlicher Wettbewerb dieser Geschichtensänger statt und der große alte Matuké macht sich aus seinem Dorf auf daran teilzunehmen. Er weiß um die Gefahr durch den Fürsten, hat er doch zusammen mit seinem Zwillingsbruder Setuké als Kind erleben müssen, wie dieser ihrem Vater die Seele raubte, mit schwarzen Schlangen, die diesem langsam die Kraft aussogen. Matuké geht nicht allein. Seine junge Enkelin Rokia, die die Hauptfigur des Romans sein wird, begleitet ihn, gegen den Willen ihrer Muter, Matukés Tochter. Sie spürt die große Gefahr, in die sich Rokia begibt - und sie behält recht. Der Fürst der Stadt aus Sand nutzt den Wettbewerb zum Angriff und zum Sammeln von Seelen. Matuké, der Zeit seines Lebens versucht hat, eine schützende Aura über alles zu legen, erlahmt, und bald baumelt eine Flasche mit seiner Seele an Sanagòs Gürtel. Zurück kehrt nur die schlaffe Hülle Matukés, und Rokia weiß, nur sie kann ihn retten, wenn überhaupt, und so macht sie sich auf den Weg durch die endlose Wüste, in die Stadt aus Sand am anderen Ende, um zu tun, was dann nötig sein wird. Zeitig hat der Großvater sie unterwiesen in der Kunst des Geschichtensingens, und Sanagò erkennt schnell, welche Gefahr auch von diesem jungen Mädchen ausgeht. Aber Rokia nimmt den schier aussichtslosen Kampf auf und fordert den Fürsten heraus … Stadt aus Sand ist eine wunderbare und ganz seltene Mischung aus spannender Unterhaltung und tiefgehenden Einsichten in philosophische Zusammenhänge. Motive, wie sie in der Fantasyliteratur gern begegnen, sind neu verwoben, bieten eine äußerst geglückte Zusammenfügung aus realistischer, lebensnaher Sicht und poetisch-magischen Einschüben, Legenden, Mysterien, Traditionen, die nicht selten an die Unendliche Geschichte eines Michael Ende erinnern; vertrautes Europäisches verbindet sich mit fremd empfundenem Afrikanischen zu einer nahtlosen faszinierenden Einheit. Die Freude am Singen, am Erzählen ist nicht nur den Geschichtensängern anzumerken, sondern auch Baccarolia. Was mir persönlich an diesem Buch besonders gefallen hat, ist die sich darin offenbarende positive Lebenssicht, die alle Beteiligten offenbaren. Hier herrscht nirgendwo eine Atmosphäre negativer Vergänglichkeit, wie es sich leicht vom Thema her angeboten hätte, hier darf sich der Leser selbst das vielfach Ungesagte ausmalen, das zwischen den Zeilen steht. Ein wunderbares Buch - fünf Sterne! Mindestens.
Personen: Baccalario, Pierdomenico D'Alò, Enzo Kaboré, Gaston Schmidt, Katharina Neeb, Barbara
Leseror. Aufstellung: Jugend → ab 12 Jahren
J/ Bacc
Baccalario, Pierdomenico:
Stadt aus Sand / Pierdomenico Baccalario ; Enzo d'Alò ; Gaston Kaboré. Nach einer ursprünglichen Filmidee von Enzo d'Alò. Aus dem Ital. von Katharina Schmidt und Barbara Neeb. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2010. - 455 S.
ISBN 978-3-596-85391-5 Festeinband : EUR 15,95
Jugendbücher ab 13 Jahren - Buch