Ein Gletscherforscher im Ungewissen Norbert Gstreins faszinierender neuer Roman In den Straßen von New York fällt einem Mann ein, »wie sehr ich es mochte, ein Fremder zu sein«. Richard, ein aus Tirol stammender Glaziologe an der Uni Hamburg, findet sich in seinen gewohnten Umständen nicht mehr am Platz, sein Leben scheint ihm in Schwebe geraten, ein Ausweg unklar. Wie viele Figuren im Gesamtwerk von Norbert Gstrein muss auch er hinnehmen, dass Gewissheit und Wahrheit, so oder so, kaum zu erlangen sind. Gstreins neuer Roman Die kommenden Jahre läuft, die dichte Erzählung hintergründig vorantreibend, in feinen Zügen auf eine Konfrontation von Gewissheitsmenschen und Existenzskeptikern hinaus. Ein wesentliches Motiv in der facettenreichen Handlung, die gesellschaftspolitische Krisen (Klimawandel, Flüchtlinge, US-Politik…) mit privaten in Bezug setzt, ist die Zeit, die vergangene und die künftige. Alles ist in die Jahre gekommen, die kommenden Jahre werden entscheidend, im Großen und Kleinen. »Nicht für immer hier auf der Erde, nur für eine kurze Zeit«, lautet das aus den Gesängen eines Aztekenkönigs zitierte Motto des Romans. In Bezug auf Ende und Erneuerung kommen Richard die Worte von Idea Selig in den Sinn. Die Großeltern der mexikanischen Gletscherforscherin waren vor den Nazis aus Deutschland nach Argentinien geflüchtet, die Eltern von dort vor der Militärdiktatur nach Mexiko. Idea ist für Richard die entfernte, doch nahe Geliebte, zugleich ein Gegenbild: Sie zieht es nach Feuerland, ihn nach Kanada. Idea hat ihm »augenzwinkernd« über die Zeitrechnung der Azteken erzählt, die nach jeweils zweiundfünfzig Sonnenjahren Untergang feierten und die Welt neu in Gang setzten, indem sie Menschen opferten. Noch viel weiter zurück weist das Eis-Motiv: Gletscherbohrungen ziehen eine Schicht aus der Tiefe, die aus dem Schnee besteht, der »vor mehr als achthunderttausend Jahren gefallen war«. Richard ist mit der bekannten Schriftstellerin Natascha verheiratet, ihre Tochter Fanny ist in der Schwebe vom Kind zum Teenie – sehr schön von der Schaukel im Garten des Sommerhauses symbolisiert. Sie »schaukelte sich so lange hoch, bis sie mit ihren Füßen über den Baumwipfeln in den Himmel stach und kopfüber in der Luft hing, ihr Haar ein wehender Schweif, den sie hinter sich herzog«. Fein lässt Gstrein anklingen, dass Richard im Schatten seiner Frau steht. Sein Familienname ist nie genannt, einige Male wird er mit jenem der Gattin angesprochen. Die privaten wie die politischen Fassaden beginnen mit langsam zunehmender Vehemenz zu bröckeln, als Natascha Flüchtlinge aus Syrien im Sommerhaus am See einquartiert, Vater und Mutter Farhi mit ihren beiden halbwüchsigen Söhnen. Die Rückblicke in Richards Ich-Erzählung führen indes vor Augen, dass sein Familienleben sich von vornherein auf unsicherem Boden bewegt hat. »Man muss die Vorgeschichte kennen, um zu verstehen«, steht am Anfang des vierten Kapitels. Mit Nataschas Zwillingsschwester Katja, die zweieinhalb Jahre vor Beginn der Roman-Gegenwart bei einem Autounfall starb, scheint die Möglichkeit einer tieferen Beziehung mitgeschwungen zu haben, jedenfalls die Illusion, »man könnte noch ein anderes Leben haben«. Welcher der beiden Schwestern er tatsächlich vor der Schutzhütte bei seinem Tiroler »Hausgletscher« die ersten Gefühlsmomente in der Dunkelheit verdankt hatte, das vermag Richard nicht zu sagen. Bei der Hochzeit mit Natascha meinte er zu Katja, sie könnten ja gemeinsam nach Kanada fliehen. »Kanada« heißt der erste Teil des Romans, »Canaan« der zweite. Im Ort Canaan am Hudson erleidet Richard einen Fahrradunfall; die Bedeutung des Wortes führt freilich wesentlich weiter. Andere Überlegungen zu einer künftigen Flucht nach Kanada stehen am Anfang von Die kommenden Jahre, sie verbinden das Politische mit dem Privaten. Richard ist der Einladung seines Glaziologen-Freundes Tim Markowich aus Montreal zu einer Tagung in New York gefolgt; dort hört er mehrmals von einheimischen Teilnehmern, sie würden nach Kanada auswandern, wenn bei der US-Präsidentschaftswahl in einem knappen halben Jahr »das Schlimmste einträte«. Als Tim, der Sohn eines Flüchtlings aus Titos Jugoslawien, eine Professur in Neufundland antreten soll, überlegt sich Richard, ob er nicht Tims Angebot, ihm dorthin an die Uni zu folgen, annehmen solle. Inzwischen gerät die Lage nicht nur am Sommerhaus, zunächst kaum merklich, aus dem Ruder. Natascha gefällt sich in ihrer Willkommenskultur, ein TV-Beitrag zeigt sie, die renommierte Autorin, als karitative Gastgeberin – und Richard am Grill. Er, den sie den »Eismann« nennt, hat »nicht gerade die beste Meinung von denen, die sich beim Helfen und Gutsein zusehen ließen«. Von den Anrainern fühlt sich die syrische Familie bedroht, die Beziehung zu den deutschen Nachbarn eskaliert bis zum Verschwinden der jungen Syrer, zudem laufen Gerüchte, Herr Farhi sei in Damaskus Offizier in bedenklicher Stellung gewesen. Alle Hauptpersonen bewegen sich auf unsicherem Terrain, viele setzen sich in Bewegung, tendieren in eine Ferne. Die Eindeutigkeiten des Lebens, wenn es je welche gab, schwinden zusehends. Die beiden Orte, die die Teile des Romans benennen, sieht Richard nach dem Fahrradunfall mit ihren Lettern aufleuchten, »einmal CANAAN, einmal CANADA in der sonst stockfinsteren Nacht«. Die Eindringlichkeit, der eigene Ton, die Tiefe der Charaktere und das Hintergründige der Vorgänge leben von und in Gstreins hoher Sprachkunst. Sie fasziniert mit ihrer vielmaschigen Motivverknüpfung und mit der Präzision der Worte, die zugleich zwischen die Zeilen blicken und eine Ungewissheit (beileibe nicht nur der kommenden Jahre) erahnen lässt. Es lohnt sich allemal, Gstreinsche Sätze genau zu betrachten, etwa den ersten des Romans; er führt in die Zukunft, während die Erzählung aus der Vergangenheit kommt. Oder jene Passage, die eine geographische Fixierung des Sehnsuchtsortes St.John’s vornimmt, die Lebensstädte heranzieht, auf Eisberge und Gletscher kommt, um in der Auflösung zu enden: »Es war die Stelle Neufundlands, die am weitesten in den Nordatlantik hineinragte, und obwohl die geographische Breite bis auf ein paar Hundertstelgrad mit der von Innsbruck übereinstimmte und man von Hamburg aus schneller hinkam als nach New York, mussten im Frühling Eisberge von den kalbenden Gletschern in Grönland vorbeiziehen, bis sie weiter im Süden zerbrachen und schmolzen und sich, lange bevor sie wirklich warme Gefilde erreichten, im Meerwasser auflösten.« Ans Ende hat Norbert Gstrein drei Varianten eines letzten, dreizehnten Kapitels gesetzt. So führt er Die kommenden Jahre zu einem subtil offenen Schluss, indem er mit der letzten Überschrift eine Wirklichkeit herausstellt, die in der Fiktion des Romans eine weitere Version des Möglichkeitssinns bildet. Was an Erzählungen wirklich ist, notabene in einer Ich-Erzählung im Rückblick der Vergangenheitsform, einer vorgetragenen Nähe in zeitlicher Distanz, muss offen bleiben. Diese Haltung, die eine Grundlage seines Gesamtwerkes ist, hat Norbert Gstrein oft betont. Der Romancier schafft eine andere Realität, in Schwebe. Seine Figur Richard erfährt als Gast bei einem reichen Gönner am Hudson von seiner Schriftstellerin-Gattin Natascha per Skype, was im norddeutschen Sommerhaus am See mit der Familie aus Damaskus geschieht. »Vielleicht war es nicht die Realität, in der ich lebte«, vermerkt er.
Altersempfehlung: ab 18 Jahren.
Medium erhältlich in:
4 Katholische öffentliche Bücherei Lesespaß,
Michelstadt
Personen: Gstrein, Norbert
Gstrein, Norbert:
¬Die¬ kommenden Jahre : Roman / Norbert Gstrein. - München : Hanser, 2018. - 284 S.
ISBN 978-3-446-25814-3 fest geb.
Schöne Literatur - Signatur: Gstre - Buch