Der Roman Jahrestage mit dem Untertitel Aus dem Leben von Gesine Cresspahl ist eines der bedeutendsten epischen Unternehmen der Nachkriegszeit und stellt eine kollektive Erinnerungsleistung im Brennpunkt einer privaten Lebensgeschichte dar. Es ist das Hauptwerk des Autors. Entstehung: Jahrestage knüpft mit seinen Themen und Personen an den Roman Mutmaßungen über Jakob an. 1963-69 experimentierte Johnson: Versuch, einen Vater zu finden und Heute Neunzig Jahr blieben Fragmente, die auf das Großprojekt hinführen. 1966 arbeitete Johnson für einen Schulbuchverlag in New York und sammelte dort Material; 1968-83 schrieb er an dem Roman. Bd. 1 und 2 umfassen je vier, Bd. 3 und 4 je zwei Monate. Nach dem Erscheinen von Bd. 1-3 (1970-73) war die Arbeit ins Stocken geraten; die zehnjährige Krise überstand Johnson durch die finanzielle Hilfe des Verlegers, so dass der vierte Band schließlich wider Erwarten der Öffentlichkeit abgeschlossen werden konnte. Inhalt: Die aus Jerichow stammende Gesine Cresspahl, die 1953 aus der DDR in den Westen kam, fand zunächst in einer NATO-Dienststelle, dann bei einer Bank Arbeit. Sie lebte in Düsseldorf, wo sie ihre Tochter Marie bekam, deren Vater, der inzwischen tote Jakob Abs, in den Osten zurückgekehrt war. 1961 ist sie nach New York gegangen und lebt dort nun seit sechs Jahren. Die zehnjährige Marie, der Gesine »für wenn ich tot bin« auf Tonband spricht, erlebt New York als eigentliche Heimat, während Gesine weiter danach sucht. Der erste Romanteil blickt zurück ins Jerichow der NS-Jahre, ebenso der zweite, um die Mutter zentrierte, der dritte widmet sich dem Vater in der Nachkriegszeit. Am Schluss steht die Gegenwart stärker im Vordergrund: 1968 bereitet sich Gesine auf eine Arbeitsphase in Prag vor, der einem wichtigen Kreditprojekt zwischen ihrer Bank und der CèSSR gelten soll. Das Ende des Prager Frühlings wird dieses Projekt überflüssig machen, der Tod ihres langjährigen Freundes D. E. lässt auch das private Schicksal Gesines offen erscheinen. Wie ihr Autor ist Gesine unsentimental, keineswegs rückwärtsgewandt. Zu Marie sagt sie: »Hier wird nicht gedichtet. Ich versuche dir etwas zu erzählen.« Auch stimmungsvolle Landschaftsschilderungen und heimatverbundene Sprache machen aus Jerichow kein Idyll. Humorvolle Skepsis vereitelt nicht den ernsten Grundton, dem auch Johnsons typischer, endlastiger Satzbau entspricht. Vor allem Dialoge und Reminiszenzen an lokale Traditionen enthalten viel Plattdeutsches. Das Ineinander von privatem Schicksal und politischer Realität wird rational reflektiert, im Hintergrund stets die Frage, ob ein demokratischer Sozialismus möglich sei. Die Figuren und der Roman suchen nach Wahrheit, die sich nur persönlich erfahren lässt. Daher die Konstruktion, die zugleich Subjektivität ermöglicht und Distanz garantiert.
Personen: Johnson, Uwe
Johnson, Uwe:
Jahrestage : Aus dem Leben von Gesine Cresspahl / Uwe Johnson. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1983. - 1703 S.
ISBN 978-3-518-41165-0
R 11 - Signatur: R 11 Uwe - Belletristik