Johansen&comma
Das schwarze Loch in mir
Buch

Die Zukunft kommt nach Fjeldvig. Sie bahnt sich ihren Weg durch das Storfjeld, ein Felsmassiv, das das kleine Dorf an der Steilküste bislang ziemlich zuverlässig vom Rest des Landes und der Welt abgeschieden hatte. Die Zukunft hat eine Menge Dynamit und große Maschinen und sie kommt nicht allein. Sie bringt den Dorfbewohnern die Segnungen der Moderne: Supermarkt, regen Verkehr, neue Erwerbsmöglichkeiten, Neid, Missgunst, Tourismus und einmal täglich die Post – mit dem Auto. Damit fällt für den Vater des Ich-Erzählers David, den alle im Dorf immer nur „Post“ nannten, die Notwendigkeit weg, den gefährlichen und beschwerlichen Fußweg über das Storfjeld zu gehen. Und damit fällt für die Post die Notwendigkeit weg, Davids Vater weiter zu beschäftigen. Aus der Sicht des jugendlichen Protagonisten David erleben wir mit, wie allein die Ankündigung, dass der lange geplante Tunnel nun wirklich gebaut werden soll, die Dorfgemeinschaft spaltet, Veränderungsprozesse, Mentalitätswandel und soziale Verwerfungen in Gang setzt, die sich verschärfen, je weiter der Bau voranschreitet. Davids Familie gehört zu den Verlierern dieser sozialen Evolution, weil sie sich nicht anpassen kann, sondern an ihrer traditionellen Lebensweise und ihren Werthaltungen festhält. Vor allem der Vater, der nach einer ebenso düsteren wie rigorosen christlichen Moral lebt, stemmt sich ebenso trotzig wie hilflos dem Wandel entgegen. Für David, der dadurch selbst unmittelbar betroffen ist, sind die Veränderungen noch rätselhafter und bedrohlicher, weil sie die Überzeugungen des Vaters konterkarieren und sein Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität verletzen. Dass dieses besonders ausgeprägt ist, liegt an der Tatsache, dass David Autist ist und zwar ein hervorragendes Gedächtnis, insbesondere für Zahlen und komplizierte lateinische Vogelnamen hat, aber kaum Verständnis für Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen. Und wenn man etwas an diesem wunderbaren Roman aussetzen kann, dann ist es Davids Autismus. Es ist sicherlich ein literarisches Wagnis gewesen, diese Perspektive einzunehmen und man darf Anders Johansen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus unterstellen – aber die Darstellung kann einfach nicht durchgehend überzeugen. Das beginnt bei der klischeeisierten Ausprägung des Krankheitsbildes: der Autist als weitgehend gefühlstaubes Zahlengenie. Paradoxerweise sind die regelmäßig auftauchenden Einschübe, in denen Schlüsselerlebnisse bzw. -erinnerungen Davids, die sein Leben als Autist in der dörflichen Gemeinschaft illustrieren sehr gelungen und wirken überhaupt nicht aufgesetzt. Aber für den Roman als Ganzes bleibt festzustellen: hier erzählt über weite Strecken ein Poet und keiner, der, wie eingangs behauptet, so gut wie keine bildsprachlichen Ausdrücke verstehen und verwenden kann. Zum Glück – denn stimmig und packend sind an diesem Roman vor allem die Atmosphäre und die überzeugende Darstellung der schleichenden Veränderung, die von Fjeldvig Besitz ergreift. Natürlich hat der Text durchaus eine Tendenz in der Beurteilung des vermeintlichen Fortschrittes, aber er ist dabei nicht oberflächlich, sondern differenziert. Weder die Modernisierer, noch die Skeptiker erweisen sich als durchweg vernünftiger oder moralischer. In Erinnerung bleiben von diesem Roman vor allem die Landschaftsbeschreibungen sowie das starke Leitmotiv des Tunnelbaus und die damit erzeugten gewaltigen mentalen Bilder von schroffer, bedrohlicher und bedrohter Schönheit.


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¬Das¬ schwarze Loch in mir / Anders Johansen. Aus dem Dän. von Gabriele Haefs. - Weinheim : Beltz & Gelberg, 2016. - 294 S.
ISBN 978-3-407-82172-0 fest geb. : ca. € 15,40

Zugangsnummer: 2018/0295 - Barcode: 2-2189203-3-00005333-4
Kinder-/Jugendbereich - Signatur: 3.6 Kinder und Jugend - Buch