Es entspricht der literarischen Herangehensweise von Essayisten, die Dinge in den Blick zu nehmen, sie von verschiedenen Seiten zu beleuchten und aus persönlicher Perspektive zu drehen und zu wenden. Lesend folgen wir diesen Annäherungen und freuen uns, wenn daraus eine neue Wahrnehmung, ein verändertes Schauen, eine neue Verknüpfung mit der Welt erfolgt. Im neuen Buch von Karl-Markus Gauß gilt dieses Verfahren nicht nur im Aufgreifen der großen Themen unserer Welt, sondern auch für Tassen mit Städtewappen, Namensprägungen auf Brieföffnern oder Bleistiftspitzern im Form eines Globus. Und für Bücher sowieso - sie finden wir zahlenmäßig in der Größenordnung einer mittleren Öffentlichen Bibliothek ebenfalls in dieser Wohnung, in die uns der Autor einlädt, um sie uns in kleinen Details und größeren Zusammenhängen zu präsentieren. Von Rückzug und Aufbruch: Die Erzählbewegung der 38 versammelten Texte ist jeweils eine gegenläufige: Wurde man an eine räumliche Besonderheit oder einen Gegenstand erst einmal herangeführt, erfolgt unweigerlich der elegante wie unvermittelte Absprung in eine höhere Ebene - z. B. an ein historisches Geschehen, ein geistesgeschichtliches Phänomen oder einen kühnen sozialen Traum. Nicht als theoretische Erörterung, sondern jeweils getragen von Menschen mit Namen und individuellem Charakter. Das Kanapee, auf dem uns Gauß einen Platz anbietet, es wird zum Sprungbrett in geistes- und sozialgeschichtliche Gefilde und zugleich Ausgangspunkt persönlicher Begegnungen mit Menschen, Zeiten und Ideen. "Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum", heißt es bei Hofmannsthal. So elegisch würde sich Gauß nicht erklären, er führt es lieber vor und beweist Individualität im konkreten Bennenen, im Unterscheiden und in der Sorgfalt des Denkens. Wer den kleinen Dingen wachen Blickes folgt, der endet unweigerlich bei den Menschen und ihren schönen, kühnen, absurden oder schrecklichen Träumen. So wird die kleine Welt zum Lesezeichen für die große, die kleine Geste zum Lebenszeichen großer Bewegungen in Geist, Kunst oder Politik. - Bei Karl-Markus Gauß lernt man lesen. Mosaiksteine möglicher Gemälde: Anfang der 1990er-Jahre erschienen Bücher wie "Das magische Auge", die mit dem Phänomen überraschten, dass man in den regelmäßigen Mustern der grafischen Oberfläche bei richtiger Distanz und hochkonzentriertem Blick plötzlich dahinterliegende Bilder in plastischer Eindringlichkeit sehen konnte. Weniger eindeutig, aber mit ähnlich erstaunlicher Wirkung arbeitet das von Karl-Markus Gauß entwickelte Verfahren, von der Oberfläche eigenständiger Texte in tiefere Zusammenhänge hinein zu führen und die LeserInnen so zu Akteuren im Verknüpfen der Bausteine zu machen. Der Leser als Autor: Setzt man die biografischen Einsprengsel und wiederkehrenden Motive zusammen, so könnte man folgenden Erzählbogen für einen Roman spannen: 1944 musste die Familie des Autors die Batschka verlassen. Bereits drei Jahre zuvor war der spätere Schwiegervater aufgrund der politischen Wirren um Südtirol aus Meran kommend in Salzburg gelandet. Es sind die Kinder von Vertriebenen, die mit ihren Herkünften und Familienerinnerungen Mitte der 1990er Jahre eine Wohnung in einer Salzburger Ceconi-Villa beziehen - erbaut von Baumeistern und Handwerkern aus dem Friaul, die es ebenfalls nach Salzburg zog. Die zweigeschoßige Wohnung in Form eines ungedrehten Schiffes wird zur Behausung eines Literaten, dessen Vorfahren einst auf einfachen Zillen ("Ulmer Schachteln") donauabwärts eine neue Heimat suchten. Salzburg wird der neue Fluchtpunkt einer Perspektive auf die Welt. Die emotionale Hauptblickrichtung des Autors hält spürbar auf Südost, hinein in die Landschaft der familiären Herkünfte. Solche und ähnliche Geschichten können entstehen, wenn man in den Essays liest oder sie im eigenen Leben zu lesen beginnen. Ein Akteur spielt sich in den Vordergrund: Für den scharfen Beobachter kulturgeschichtlicher Entwicklungen und Zusammenhänge waren die Themen "Zeit" und "Veränderung" immer schon von hoher Bedeutung. Im aktuellen Band erfolgen die Beobachtungen von Verwandlung und Umbrüchen verstärkt im Blick auf das eigene Leben und das der Familie. Das Phänomen "Zeit" wird zum Akteur. "Die mir einst regelmäßig Briefe schrieben, sind tot, verstummt, von mir enttäuscht oder nach und nach aus der Wirklichkeit der persönlichen Wörter in die digitale Welt der vorgegebenen desertiert." (S. 18) Eine spitze Feder und geschliffene Rhethorik lassen aufkeimender Sentimentalität keinen Raum, der die Texte begleitende "Geschmack der Erinnerungen" (S. 157) verleiht dem Buch aber doch eine ausgesprochen persönliche Note. Immer wieder führt uns der Autor in seine Bücherwelten. Unzählige Bände wurden in dieser Wohnung gelesen und erwiesen sich doch zugleich als "Weg hinaus in die Welt" (S. 130). Oder - wie das Kochbuch der Großmutter - als Weg zurück in eine imaginierte Herkunft.
Personen: Gauß, Karl-Markus
Gauß, Karl-Markus:
Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer / Karl-Markus Gauß. - Wien : Paul Zsolnay Verlag, 2019. - 220 S.
ISBN 978-3-552-05923-8 fest geb. : ca. € 22,70
Romane, Erzählungen, Novellen - Signatur: DR Gauß - Buch: Dichtung