Oft ist es ein einziges Bild, das den Zustand eines Landes nach außen trägt. Im Falle Moldawiens ist es meist ein leer gefegtes Dorf, aus dem Väter und Mütter wegen der Arbeit ausgezogen sind und worin sich die Kinder mit den Alten die Welt selbst einrichten müssen. Liliana Corobca zeigt eine Welt mit allem Drum und Dran, freilich agieren darin in der Hauptsache Kinder, während die Erwachsenen zu Komparsen einer eigenartigen Dorfidylle werden. Die Erzählerin Christina muss nicht nur auf ihre beiden Brüder aufpassen, sie muss auch den Haushalt schaukeln und ist zwischendurch für einen Teil des Dorflebens in ihrer Gasse verantwortlich. Vater und Mutter arbeiten im Ausland wie fast alle im Ort, die Behörde unternimmt nur das Notwendigste, um die Kinder mit Bildung in Berührung zu bringen, ab und zu gibt es einen Sozialarbeiter, der alle fragt, ob sie Depressionen hätten. In der Schule tauchen immer wieder Kinder-Überraschungseier auf, die jemand in einem fernen Land gespendet hat. Da die Kinder die fremde Sprache nicht verstehen, sagen sie zu den Eiern einfach Kinder. Dabei sind die Probleme oft ganz handfester Art, wie entfernt man Zecken, wie melkt man eine Ziege, die nicht stillhalten will. "Früher erzählte Großmutter uns Geschichten, jetzt aber erzählen wir." (32) "Manchmal machen wir ein Spektakel und spielen Familie." (47) Die Kinder gehen völlig geradlinig mit den Ausbuchtungen der einzelnen Familienclans um. Die Väter tun sich im Ausland immer wieder mit fremden Frauen zusammen, weil sie die Einsamkeit nicht aushalten und kommen nur selten nach Hause, dann aber mit einem Vollrausch. Wenn man Pech hat, bringen sie ihre fremd gemachten Kinder mit, die dann ebenfalls verloren sind. Und seit die Erwachsenen fast alle weg sind, gibt es unendlich viel zu trinken, weil die Reste des Weinbaues noch immer in den Hängen liegen. Auch das eigene Erwachsenwerden kommt völlig unverblümt zur Sprache, die Mädchen mit Monatsblutung erhalten einen neuen Rang der Kompetenz im Dorf, die bereits Erwachsenen werden einfach Mädchen mit Titten genannt. Christina erzählt und erzählt, während sie selber erwachsen wird, von den Tieren, von denen man lernen kann, und von den Büchern. Es gibt freilich nur eines, das über den Weinbau, aber da steht alles drin. Und unvergessen ist der Heldin die erste Wanderung aus dem Dorf hinaus hinauf auf eine Anhöhe, von dort aus ist der erste Horizont des Lebens zu sehen, indem man richtig sieht, wie das Dorf in der Welt liegt. Liliana Corobca erzählt eine harte Dorfgeschichte mit lauter vergessenen Heldinnen darin, aber selten wo werden die Grundhandgriffe des Lebens so eindringlich gelernt, wie von diesen Kindern, die weit ab von Bildungskonzepten das Leben als Zeit des Durchhaltens begreifen. - Ein Stück Zeitgeschichte aus Moldawien. Helmuth Schönauer
Personen: Corobca, Liliana Wichner, Ernest (Übers.)
Corobca, Liliana:
¬Der¬ erste Horizont meines Lebens : Roman / Liliana Corobca. - 1. Aufl. - Wien : Zsolnay, 2015. - 190 S. Kinderland
ISBN 978-3-552-05732-6 fest geb. : ca. Eur 19,60 Zugangsnummer: 0024172001 - Barcode: 0000440509
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Coro - Buch: Dichtung