Protokoll eines Wahnsinns Die Lektüre dieses Buches beteiligt und betrifft (und macht betroffen) jeden, der nach den ersten Seiten weiterliest. So will es der Autor. Der sensationslüsterne "Voyeurismus", der sich an Skandalen und Katastrophen begeilt und die Medienwelt anstachelt, noch schneller und näher an Orten des Unheils, des Todes, der Gewalt, des Leidens anderer zu sein - dieser "Voyeurismus" ist Thema in Glavinic' neuer Novelle. Steiermark, irgendwo "am Land". Der "Kameramörder" bringt zwei Buben in seine Gewalt, quält sie und zwingt sie zum Sprung in den Tod. Nicht nur das: er filmt auch alles. Das Video geht an die Medien, die sich zu Mitspielern im Spiel des Mörders machen, indem sie ihrem Publikum den Film auch präsentieren. Der Leser befindet sich wie ein fünfter unter zwei Paaren, die das Osterwochenende gemeinsam verbringen, und nimmt Teil am Geschehen, das der Ich-Erzähler protokollarisch genau, aber sehr distanziert berichtet. Die Diskussionen um die Nachrichtenmeldungen über diesen Fall, die polizeiliche Suche des Mannes, der sich in unmittelbarere Nähe aufhalten soll, sowie die Fernsehausstrahlungen des Videos prägen das Miteinander der vier Personen. Essen, Trinken und Schlafen richten sich immer mehr nach den Sendeterminen - wirklich wird das Fernsehen und alles weitere ist Beigabe in Form von Bier und Chips. Was hier inszeniert wird, ist eine äußerst pervertierte Osterliturgie. Da werden am Karfreitag zwei Buben stellvertretend für alle hingerichtet - stellvertretend für die Sensationslust der anderen, vor allem aber für die Inszenierungsperfektion des Mörders, der sich dann auch noch die Morde in Ruhe auf dem Bildschirm anschaut, einschließlich seiner eigenen Verhaftung. Die Brisanz des Themas liegt auf der Hand: ohne ausgesprochen zu werden, kreisen ethische Fragen über dem Text: die Frage nach dem viel zu hohen Abstumpfungsgrad, nach dem Interesse an den Schicksalen und dem Leiden der anderen, die via Bildschirm scheinbar leichter zu ertragen sind als live und persönlich direkt. Da helfen auch die eingeblendeten Spendenkonten und die psychologische Betreuungshotline nichts - moralischer wird die Sache dadurch nicht. Das Gewissen des Lesers beißt und sticht: wer liest, wird ein Teil dieses Geschehens, macht mit. Sollte man nicht eigentlich aussteigen, abschalten, nicht weiterlesen und -schauen? Ein Tabubruch des Autors? 5 Berliner Literaturhäuser - so berichtete der "Standard" im Februar - lehnten die offizielle Präsentation des Buches in Deutschland ab: sie fürchteten einen Tabubruch. Ist es nun ein "gutes" Buch? Es ist, trotzdem und gerade deswegen. Denn: "Das Schreckliche in der Literatur ist das Entsetzen des Literaten über das Schreckliche", wie Turrini es einmal formulierte, und man müsste ergänzen: und das der Leser. Brigitte Schwens-Harrant 2/2001 *Sz*
Personen: Glavinic, Thomas
Glavinic, Thomas:
¬Der¬ Kameramörder : Roman / Thomas Glavinic. - 6. - München : dtv, 2008. - 156 S.
ISBN 978-3-423-13546-7 kt. : Eur 8,20
Kriminalromane - Signatur: DR.D Gla - Buch: Dichtung