Auf der Suche nach der eigenen Identität trifft romantisches Wunschdenken auf harte Tatsachen. (DR) Ich-Erzähler Max, ein nur mäßig erfolgreicher Schriftsteller, ist wie sein Herz (er leidet an Herzrhythmusstörungen) aus dem Tritt geraten. Scheidung nach langen Ehejahren, sein erwachsener Sohn ist ihm fremd geworden und hat ihn bereits mit seinem ersten Roman karrieremäßig überflügelt. So beschließt Max, sich einen lange gehegten Traum zu erfüllen und sich auf die Suche nach seinen Vorfahren zu machen. Denn als Sechsjähriger hat ihn die Mutter in ein Familiengeheimnis eingeweiht: In ihrem Tagebuch berichtet die Urgroßmutter von ihrer Emigration nach Wyoming, wo sie als Lehrerin in einer Missionsstation für Indianerkinder arbeitet. Sie verliebt sich in den Arapaho-Indianer Nisono'oho, doch eine Beziehung zwischen einer weißen Frau und einem Indianer ist zu dieser Zeit schlichtweg undenkbar und es bleibt bei einigen heimlichen Treffen. Die Urgroßmutter wird schwanger und kehrt nach dem gewaltsamen Tod ihres Geliebten in die Schweiz zurück. Bereits als Kind ist Max fasziniert von der Idee, teilweise indianischer Abstammung zu sein. Als Erwachsener fragt er sich zwar, warum ihm dieser Teil so viel wichtiger ist als seine Schweizer Wurzeln, bricht aber nach Amerika auf. Während er versucht, sich als Stammesmitglied registrieren zu lassen - womit er gründlich scheitert -, erfährt er von einem Ute-Indianer, der mit allen Mitteln seine Abstammung verheimlicht. Um seine Praxis als Zahnarzt erfolgreich führen zu können, gibt er sich als Hawaiianer aus. Bei der Spurensuche in den Unterlagen der Missionsstation erwartet ihn die nächste herbe Enttäuschung - es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass seine Urgroßmutter jemals hier gearbeitet oder gelebt hat. Auch der Versuch, einige Wochen in einer abgelegenen Blockhütte Manitobas zu verbringen, um dem Leben seines vermeintlichen Urgroßvaters nahe zu sein, findet ein jähes Ende, als sein Blockhaus in Flammen aufgeht. An der Wand steht die Botschaft "Wasichus (=Weiße) get off!" zu lesen. "Manitoba" ist ein melancholischer Roadtrip eines Mannes auf der Suche nach sich selbst. Denn so, wie der Protagonist immer wieder Rückschläge bei der Suche nach seinen Wurzeln erleidet, kämpft er auch darum, sich im Hier und Jetzt zu behaupten. Und so lautet der letzte Satz folgerichtig: "Ich befand mich inmitten eines Ereignisses von epochalen Ausmaßen, und ich wusste nicht, wo mein Platz war." Bei aller Melancholie ist Reichlin eine vielschichtige Familiengeschichte gelungen, in die auch viel von Vergangenheit und Gegenwart der nordamerikanischen Indianer einfließt. Sehr zu empfehlen.
Personen: Reichlin, Linus
Reichlin, Linus:
Manitoba : Roman / Linus Reichlin. - Berlin : Galiani Berlin, 2016. - 277 S.
ISBN 978-3-86971-131-7 fest geb. : ca. € 20,60
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Reic - Buch: Dichtung