Manche Orte sind so kalt, düster, aufgewühlt und abgehängt, dass ihnen nur noch ein Krimi beikommen kann. Ein Musterort für Krawall, Entgleisung, Mord und Totschlag ist der Brenner. Lenz Koppelstätter ist der intellektuellste unter den Südtiroler Krimi-Machern. Allein sein Commissario Grauner, dessen Herz an einem Bio-Hof hängt und der zum Grübeln am liebsten Gustav Mahler hört, hat sich eine Lebensneugierde bewahrt, die ihn wohltuend von den üblichen angefressenen Beamten dieses Genres unterscheidet. Sein kongenialer Partner aus Sizilien fühlt sich in Südtirol pudelwohl, und das Duo tritt Alltags-kulturell so authentisch auf, dass man vergisst, dass hier eine deutschsprachige und italienische Seele eingespeist sind. Durch den Brenner-Krimi zieht immer wieder das pure Grauen auf. Es ist der Brenner selbst, der diese Horrorstimmung auslöst. "Am Brenner überlebt keine Mücke. Am Brenner gibt es keinen Sommer. Am Brenner ringen immerfort alle Jahreszeiten miteinander." (6) Im Morgengrauen werden am Brenner Leichteile gefunden, Schleifspuren, die von einem Pferd herrühren, ein Auge liegt irgendwo, an anderer Stelle die Zähne. Commissario Grauner ist nicht sehr erbaut über den Beginn seines neuen Falles, zumal hinter dem Brenner der Hof seiner Eltern liegt, die vor gut einem Vierteljahrhundert darin ermordet worden sind. Es folgen vier Augusttage, die im Tal sehr heiß empfunden werden, am Brenner aber gefühllos. Nicht einmal in der Table-Dance-Bar kommt Hitze auf, am Brenner ist es selbst für Erotik zu kalt. Bald taucht noch eine Leiche auf, sie lehnt an einem Autobahnpfeiler, und dann gibt es nur noch Spuren und Handlungsstränge. Kluge Krimis sind heutzutage äußerst leserfreundlich aufgebaut. Aus diesem Grund kommt es immer wieder zu Reflexionen und Überlegungen, die dem Leser ein neues Einsteigen in den Plot ermöglichen, sollte er aus irgendwelchen Gründen aus dem Buch herausgefallen sein. So tun sich beim Brennerkrimi krampfhaft stillgelegte Erzählungen auf. Die Buben der Umgebung führen zu Kriegsende Nazis über die Grenze und zocken sie ab. Später werden allerhand Geheimbünde zumindest als Gerücht am Brenner sesshaft. In der Gegenwart werden Flüchtlinge geschmuggelt, was das Zeug hält. Und alles verschwindet ordnungsgemäß von der Bildfläche, wenn der Morgennebel einfällt. Lenz Koppelstätter nimmt den Krimi nur als Vorwand, um seinen Helden in die verdrängte Südtiroler Vergangenheit abtauchen zu lassen. Auf engstem Raum wird erzählt, was diese versiegelte Zeitgeschichte für die Einzelnen bedeutet, wenn alle ein Leben lang durch das gemeinsame Erleben erpresst werden. Der Brenner ist wie alle Grenzstationen letztlich ein rechtsfreier Raum, der sich sein eigenes Personal hält. Hier kommt der Autor in seiner Erzählweise nah an das Erzählgenie Don Winslow heran, die Parallelen zwischen dem Brenner und dem mexikanischen Ciudad Juárez sind verblüffend. - Der Brenner ist immer schon eine unheimliche Grenze gewesen, die man am besten mit geschlossenen Augen überwindet. Nach diesem Krimi hilft auch das Augenschließen nichts, denn dieser Krimi wühlt sich mit seinen starken Bildern stracks bis zur Netzhaut durch. Helmuth Schönauer
Serie / Reihe: Commissario Grauner 3
Personen: Koppelstätter, Lenz
Koppelstätter, Lenz:
Nachts am Brenner : [Südtirol-Krimi] / Lenz Koppelstätter. - Originalausgabe. - Köln : Kiepenheuer und Witsch, 2017. - 324 Seiten - (Commissario Grauner; 3)
ISBN 978-3-462-05008-0 kart. : Eur 10,30
Kriminalromane - Signatur: DR.D Kopp - Buch: Dichtung