Gruber, Sabine
Stillbach oder die Sehnsucht Roman
Buch: Dichtung

Südtirol-Rom und retour Sabine Grubers Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" Es ist noch nicht lange her, dass Michel Houellebecq gestorben ist. Es war in seinem Roman Karte und Gebiet, der 2010 erschienen ist, auf Seite 276. Der Tod des Autors im Text hob auf Seite 23 recht unverfänglich an: "›Michel Houellebecq?‹ -›Du kennst ihn?‹, fragte Jed überrascht. Er hätte nie geglaubt, dass sich sein Vater überhaupt noch für Kunst interessierte. ›Es gibt eine kleine Bibliothek im Altersheim; ich habe zwei seiner Romane gelesen. Mir scheint, er ist ein guter Autor, angenehm zu lesen, und sein Blick auf unsere Gesellschaft ist ziemlich klarsichtig.‹" Eine nicht unähnliche Passage findet sich im neuen Roman von Sabine Gruber - auf Seite 322, um genau zu sein: "Ist nicht die in Wien lebende Schriftstellerin Sabine Gruber in Lana aufgewachsen? Clara hatte erst vor kurzem ein Buch dieser Frau in der Hand gehabt, in dem Venedig eine zentrale Rolle spielt… Wenn sie sich nicht irrte, war Ines mit Gruber sogar flüchtig befreundet gewesen… Vielleicht hatte Ines die Vorfälle in diesem Kloster lediglich exzerpiert, um irgendwann Sabine Gruber davon zu berichten?" Was diese Ines, eine Romanfigur, eben verstorben, 2008 in Rom, mit der im Romangeschehen nur kurz auftauchenden und tatsächlich in Wien lebenden Schriftstellerin Sabine Gruber verbindet, ist der literarische Stoff, an dem sie schreiben. Es geht um die Geschichte der Südtirolerin Emma Manente, "die Ende der dreißiger Jahre nach Rom gekommen war, eine Landpomeranze mit Zöpfen, ohne Ausbildung". Dass sich viele junge Südtirolerinnen in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts in italienischen Großstädten als Dienstboten verdingten, diese typische Arbeitsmigration ruft die Geschichte ins Gedächtnis. "Eine klassische Hausangestelltengeschichte … mit unerwartetem Ende". Am 7. Jänner 2011 starb Emma Manente in einem römischen Altersheim, wurde neben ihrem Ehemann Remo Manente auf dem Campo Verano, Roms größtem Friedhof, begraben. Diese Tatsache vermerkt Gruber im Abspann zu ihrem neuen Roman, zusammen mit der, dass Erich Priebke 2010 als Bundespräsidentschaftskandidat der NPD im Gespräch war - jener Erich Priebke, der als stellvertretender Kommandant der deutschen Sicherheitspolizei in Rom an der Erschießung von 335 italienischen Zivilisten am 24. März 1944 in den Fosse Ardeatine, Sandsteinhöhlen im Süden des Stadtgebiets, mitverantwortlich war. Es handelte sich um den Vergeltungsakt für den am Vortag ausgeführten Partisanenanschlag auf das Regiment "Bozen" in der Via Rasella, deren Name seither Synonym für den heldenhaften italienischen Widerstand gegen das verhasste Nazi-Regime in Rom ist. Emmas (vermutlich fiktiver) Verlobter Johann war unter den Opfern des Attentats, beide kamen sie aus dem (fiktiven) Südtiroler Dorf Stillbach. Oft genug verknüpft die Historie Opfer und Täter auf solche Art. Diese Episode freilich schrieb nicht die Geschichte allein, sondern die Stillbacherin Ines, sie "hatte tatsächlich an diesem mehrbändigen Werk geschrieben, hatte nicht nur davon gesprochen, wie diese Freundin Mariannes, die es scheinbar noch immer vorzog, sich den Tagträumen über Romane hinzugeben und auf imaginären Erfolgswellen zu surfen, anstatt endlich zu schreiben. Wien war voll von derartigen überempfindlichen Schriftstellerinnen und Dichterinnen". Clara, Ines' Freundin aus Stillbacher Kindheit, ist aus Wien nach Rom gekommen, um deren Haushalt aufzulösen. Sie entdeckt das Manuskript. Es ist die "Geschichte ihrer Freundin", zwei ineinander verflochtene Erzählstränge, kapitelweise alternierend: der eine aus Sicht der 17-jährigen Ich-Erzählerin erlebt, die im Sommer 1978 nach Rom kommt, um im Hotel der Emma Manente Geld zu verdienen; der andere aus der Perspektive der erwachsenen Ines, die das Schicksal ihrer strengen Brotgeberin ergründet und von Antonella, ihrer römischen Arbeitskollegin und Sympathisantin der indiani metropolitani, fasziniert ist. Am Todestag Papst Johannes Pauls I. muss sie aus Rom gehen, die Umstände wollen es so. Man unterstellt ihr, Geld gestohlen zu haben. Paul, Geschichtestudent, der sich in Rom als Touristenführer ein Zubrot verdient und Ines' Liebhaber für eine Nacht wird, verliert sie, wie die Manente ihren Johann ver- loren hat. Dieser Roman im Roman macht den Hauptteil aus. Die Rahmenerzählung setzt mit dem Tod der Schriftstellerin Ines ein und mit dem Bewusstsein, dass man mit dem Tod mehr und mehr der Vergessenheit anheimfällt. "Ich weiß so wenig von Ines", erkennt Clara. "Was noch an Erinnerungen da ist, wird nach und nach versickern." Paul, der aufgrund einer gescheiterten Beziehung in Wien wieder in Rom ist und den Ines noch vor ihrem Tod kontaktiert hat, versucht "eine Schneise in das Vergessensdickicht" zu schlagen. Er, der als Historiker besessen von der Vergangenheit ist, ein Spezialist des Italien unter Mussolini und der Nazi-Besatzung, er, der "Führungen durch das faschistische und besetzte Rom" anbietet, scheitert an persönlicher Erinnerung. Wie lebendig aber gerade die Toten der Geschichte sind, wie sehr sie die Gegenwart beherrschen, wird in diesem Gegensatz klar. Wer, im Übrigen, denkt nicht an Ingeborg Bachmann, wenn eine Schriftstellerin in Rom stirbt? "Hört auf, die Toten zu töten,/Schreit nicht mehr, schreit nicht,/Wenn ihr sie noch hören wollt,/Wenn ihr hofft, nicht zu verderben.//Sie haben das unmerkbare Flüstern,/Sie machen nicht mehr Lärm/Als das Wachsen des Grases,/Froh, wo kein Mensch geht." Giuseppe Ungarettis Aufforderung steht als Motto dem Roman voran, die Übersetzung stammt von der Bachmann. Es sind nun eben solche nie direkten Anspielungen, die einen Teil der Qualität dieses Romans ausmachen, eine Reihe von scheinbaren Beiläufigkeiten, die das Erzählte lebendig machen und vor biederer Vergangenheitsbewältigung bewahren. Es ist das genaue Hinhören, das Gruber in der Recherche betrieben und im Schreiben umgesetzt hat. "Um glaubwürdig zu bleiben, mußte man in einem Roman vom eigentlichen Wahnsinn absehen", lässt Gruber ihren Historiker Paul sagen (und tut ebendies); er ist es auch, der Grubers Erzählstrategie formuliert: "Vielleicht war es eine Strategie des alternden Gedächtnisses, Historisches in Alltäglichem zu verhaken, damit es weniger schnell verlorenging"; er ist es, der Ines darauf aufmerksam macht, dass sie "als Südtirolerin wenig über die faschistische und nationalsozialistische Vergangenheit [ihres] Landes wisse" und damit ein wesentliches Schreibmotiv liefert; und nicht zuletzt ist er es auch, der mit der jungen Archäologin Julia ins Bett geht, wobei wir aus ihrem Mund erfahren, was "Forellensex" ist. Lieben und hassen, erinnern und vergessen, schreiben und schweigen sind hier Themen, die den roten Faden im Gewebe eines Stücks Südtiroler und italienischer Geschichte ausmachen. Sabine Grubers sorgfältig durchkomponierter Roman ist ohne Zweifel ein Meisterwerk, das zeigt, dass Schriftseller nicht "ein Leben lang Kinder [bleiben], die als Erwachsene eine Form gefunden [haben], um das letzte Wort zu behalten", wie der Historiker Paul gegen Ende des Romans für sich denkt. Schriftsteller behalten das letzte Wort nicht aus kindlicher Rechthaberei, sondern weil sie im besten Fall originelle Perspektiven schaffen. Wo das - wie hier - gelingt, schnürt das letzte Wort des Schriftstellers das Gespräch mit dem Leser nicht ab, sondern macht es oft erst möglich. *Literatur und Kritik* Bernhard Sandbichler


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Gruber, Sabine

Schlagwörter: Neuere österreichische Literatur Liebe Italien Freiheitskampf Verrat Südtirol Autor <Österreich> Autor <Italien> österreichische Literaur <Neuere> Tirol <Süd>

Gruber, Sabine:
Stillbach oder die Sehnsucht : Roman / Sabine Gruber. - München : Beck, 2011. - 379 S.
ISBN 978-3-406-62166-6 fest geb. : ca. Eur 20,60

Zugangsnummer: 0019223001 - Barcode: 0000390613
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Grub - Buch: Dichtung