Hätte er sich 1972 nicht umgebracht, hätte er 2022 eines natürlichen Todes sterben können. Kurt Palm schenkt seinen Helden aus dem Jahre 1972 nichts. Dieses Jahr ist für eine ganze Generation ein gewisser Höhepunkt, was Musik, Literatur und politische Kampfkultur gegen den Vietnamkrieg betrifft. Wer damals den Absprung nicht schafft, muss seither ein Leben lang in Verdruss, Mittelmaß und dem Nachweinen alter Zeiten verbringen. Dieses 1972 hat den Vorteil, dass es alle gleich erlebt haben und den Nachteil, dass es die nächste Generation alle gleich wenig interessiert. Das Schöne damals: Die Musik besteht aus einem Arm voll Vinyl-Platten, die jeder bei sich stehen hat. Die Bands sind genormt wie die vier Fälle in der Grammatik, weshalb auch die vier Kapitel des Revolutions-Epos nach desaströsen Songs benannt sind. Haha Said the Clown (7) / Love in Vain (84) / You Can't Always Get What You Want (151) / Bad Moon Rising (221). Die Lektüre ist ähnlich kanonisiert und beschränkt sich im Wesentlichen auf die bunten Suhrkamp-Bändchen, die sich hervorragend klauen lassen. Der Text lässt sich dafür nicht lesen, so wird im Soziologendeutsch tatsächlich von einem Körper-ungebunden Sex geschwafelt. was jene Helden fertig macht, die selbst erst den Sex in die Körper und wieder hinaus kriegen müssen. Der Held Ernst nennt sich nach Mick Jagger und hat einen Nachzipf, was aber den Sommer ungemein beflügelt. Vater werkelt an einem Opel Kapitän herum, Mutter packt das Porzellangeschirr ein und es geht über den Wurzenpass hinunter auf der Gastarbeiterroute ins Paradies. Danke für die Scheiße! hat jemand auf seinen WC-Kiosk geschrieben, an anderer Stelle kotzt beim Vorbeifahren ein Kind ins Auto der Protagonisten. "Unten" gibt es ordentliche Erotik mit einer Anika, die später schreibt, dass sie schwanger ist, und nichts mehr von sich hören lässt. Überhaupt wird dieser Sommer immer von Träumen und Vorausahnungen unterbrochen. Die Mutter stirbt später im Hochwasser im eigenen Keller, der Freund Candy macht einen kleinen Krimi-Vorfall und bringt sich standesgemäß aus Schande um. Und dazwischen glüht der Sommer auf das Provinz-Strandbad, Mädchen und Buben pubertieren und packen dabei Dinge aus, die sie bislang noch nicht gekannt haben, und in den Aufreiß-Gesprächen wird entweder über eine Band oder die Revolution geredet. Kurt Palm schreibt in lapidarem Stil von einer Revolution, die in dieser österreichischen Provinz-Fassung tatsächlich ganze Jahrgänge erfasst hat. Alle, die um 1972 herum pubertiert haben, geben einstimmig zu, dass dies der Höhepunkt des Lebens gewesen ist. Diese Strandbadrevolution wird ein Leben lang als so heftig empfunden, dass niemand mehr etwas Anders noch erleben will. - Die Zeitgenossen empfinden diesen Roman als Bibel, auf die man sein eigenes erbärmliches Leben beschwören kann, die Nachfahren lachen sich kaputt und zeigen einen Huscher, wenn sie vergnügt in diesem sonnigen Kurt Palm lesen. Helmuth Schönauer
Personen: Palm, Kurt
Palm, Kurt:
Strandbadrevolution : Roman / Kurt Palm. - Wien : Deuticke, 2017. - 254 S.
ISBN 978-3-552-06337-2 fest geb. : ca. Eur 20,60
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Palm - Buch: Dichtung