Zukunftsentwürfe sind Kommentare zur Gegenwart: Aus einem imaginierten Morgen heraus verhandeln Utopien und Dystopien das, was heute bewegt. Utopien tun dies in Form von positiven Gegenbildern zur defizitären Gegenwartsgesellschaft. Dystopien dagegen extrapolieren beunruhigende Entwicklungen in eine monströse Zukunft. In Andrea Paluch und Annabelle von Sperbers großformatigem Bilderbuch „Die besten Weltuntergänge“ sind zwölf Zukunftsbilder versammelt, die beide Pole und das ganze Spektrum dazwischen abdecken: Die Bandbreite reicht von der Vision einer fast schon bukolischen Idylle, in der Mensch und Tier harmonisch zusammenleben, Kühe ihre Milch (ehrlich!) ganz freiwillig abgeben und zwei Jungs in hohem Bogen vors Schlachthofmuseum kotzen, über Szenarien von Städten ohne Autos und einem Leben in Raumschiffen bis zum Albtraum einer ausgetrockneten Welt, in der „das Recht der Stärkeren“ herrscht: „Die Grenzzäune sind gesäumt von den Leichen der Verdursteten. Sie werden zur Abschreckung dort liegen gelassen.“ Der Klett-Kinderbuch-Verlag beweist hier einmal mehr, dass er Kindern – und Vermittler*innen! – etwas zutraut und sich dabei zurecht auf ein Gelände wagt, das andere lieber weiträumig umgehen. In diesem Fall ist es aber ein holpriger Spaziergang, zu dem wir eingeladen werden. Zum einen wechselt das Werk zwischen brutalem Realismus und Idylle, ohne dass dabei der Erzählmodus wesentlich changiert oder die Spielregeln des jeweiligen Gedankenexperiments transparent werden: Eine Welt, in der sich Menschen aufgrund des angestiegenen Meeresspiegels in Wolkenkratzern drängen, steht neben einem Kinderparadies, in dem „Zähne von selbst sauber“ und Verletzungen „weggezaubert“ werden. Der kulturkritische Stachel und das subversive Potenzial von Utopie und Dystopie liegen aber gerade in der Verbindung, die Rezipient*innen zwischen ihrer Gegenwart und der dargestellten Zukunft ziehen. Dazu muss der Weg von hierhin nach dorthin nachvollzogen oder zumindest imaginiert werden können. Die Grundlage dafür bietet das Werk in vielen Fällen nicht, was auch daran liegt, dass es sich nicht entscheiden kann, ob es Märchen oder Science-Fiction sein will. Zum anderen überzeugen nicht alle der gewählten Strategien, harte Themen adressatengerecht zu vermitteln. Zwar sind von Sperbers reichhaltige Panoramen faszinierend; gerade die Details bieten viel Potenzial für anregende Gespräche. Auch der Ansatz, große Umwälzungen am Alltag von Kindern zu konkretisieren, ist originell umgesetzt. Dass dazu auf wiederkehrende Figuren gesetzt wird, die zur Identifikation einladen, scheint naheliegend. Allerdings geht mit der Wahl dieser Figuren eine starke Verengung der Perspektive einher, umso mehr, als die Betrachter*innen aufgefordert werden, sie auf jeder Seite ausfindig zu machen. Dass damit der Such- und Wimmelbildspaß gegenüber der zentralen Frage – „Wie wollen wir leben?“ – ins Zentrum rücken dürfte, mag man hinnehmen. Dass dieses „wir“, über dessen Zukunft hier nachgedacht werden soll, einmal mehr Gestalt annimmt in Form der Weißen, traditionellen Familie, die noch dazu in jeder Vision zu den Privilegierten zählt, die besten Jobs hat und selbst im gesetzlosen Niemandsland ein Haus mit Hof, Solaranlage und Brunnen besitzt, ist schwerer zu schlucken. Bei aller Offenheit für unterschiedlichste Szenarien bleibt diese Vision von Zukunft und „Welt“ dann doch recht exklusiv.
Personen: Paluch, Andrea Sperber, Annabelle von
¬Die¬ besten Weltuntergänge : was wird aus uns, zwölf aufregende Zukunftsbilder / Andrea Paluch (Text) ; Annabelle von Sperber (Illustrationen). - Leipzig : Klett Kinderbuch, 2021. - 26 ungezählte Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-95470-255-8 Festeinband : EUR 16,50 (AT)
Natur und Mensch - Signatur: JN beste - Buch