Es wird nicht gut ausgehen, zumindest nicht für den Vogelschorsch. Daran lässt die Ich-Erzählerin des Romans von Hannes Wirlinger bereits im Prolog keinen Zweifel. Warum also weiterlesen, eintauchen in diese Erzählung, die von der ersten Seite an eine leicht schwermütige Atmosphäre entfaltet, das Gemüt verdunkelt wie die sprichwörtliche Wolke am Himmel? Eben weil sie Atmosphäre schafft, Bilder erzeugt, das Gemüt der Leserinnen und Leser erreicht - doch eins nach dem anderen. Wer ist dieser Vogelschorsch? Kein Zweifel, er ist anders: er denkt anders, er sieht anders aus und er benimmt sich anders als die anderen Burschen im Umfeld der 14-jährigen Lena. Er trägt seltsame Kleidung, er geht auf eine besondere Schule für Leute, die nicht so schnell denken, wie man bald erzählt. Er taucht plötzlich auf, redet die ganze Zeit über Vögel, zu denen er eine besondere Beziehung hat und die er wie Menschen behandelt, dann verschwindet er einfach wieder. Und Leni? Die Ich-Erzählerin hat in ihrem eigentlich beschaulichen Dorfleben in den 80er Jahren doch schon genug mit den Komplikationen und Fragen einer Heranwachsenden zu tun: dem Dauerstreit ihrer Eltern. Der Frage, ob nun der Mühltaler Max oder der Lederer Lukas noch etwas anderes sein sollen als gute Freunde. Warum Jungs beim Küssen immer nach Dauerwurst schmecken. Neben all den Aufregungen und Verwicklungen ihrer ersten Lieben scheint der Vogelschorsch, der neu hinzugezogen ist, wie ein trauriger Schatten immer in ihrer Nähe zu stehen. Mit ihm teilt sie besondere Erlebnisse, sie lässt sich auf ihn ein, beginnt die Welt mit seinen Augen zu sehen, obwohl er immer ein wenig fremdartig bleibt. Sie steht loyal zu ihm, fühlt sich verbunden - und kann ihm doch nicht helfen, ihn nicht retten. So wechseln sich helle mit dunklen Momenten bei der Lektüre ab, mal wird es tiefschwarz in einem beim Lesen, mal sprenkeln heitere Tupfer das düstere Bild. Diese scharfen Kontraste zwischen Licht und Schatten, die nie in ein monotones Grau zusammenfließen, machen die Geschichte so besonders, dass sie einen nicht mehr loslässt - bis zum bitteren Ende. Wie der Vogelschorsch wirkt der ganze Roman wie aus der Zeit gefallen, könnte passagenweise auch der Schauerromantik zuzuordnen sein, hebt sich ab, prägt sich ein. In den 47 Kapiteln, denen jeweils eine der wunderbaren Illustrationen von Ulrike Möltgen vorangestellt ist, zeigt Wirlinger seine Erzählkunst mit einer plastischen und glaubwürdigen Figurenzeichnung, expressiven Raumbeschreibungen, authentisch wirkenden Dialogen, Spannung erzeugenden Prolepsen - vor allem aber mit einer bildreichen und poetischen Sprache. ÖKJB-Preis 2020: "Die besonderen unter den Menschen suchen einen wie ein warmer Mairegen Tropfen für Tropfen heim. Sie graben sich wie kunstvolle Gravuren unauslöschlich in unser Gedächtnis. Solche Menschen vergisst man sein ganzes Leben nicht. So ein herausragender Mensch war für mich der Vogelschorsch." Mit diesen poetischen Worten beginnt dieser auch auf der Buchgestaltungsebene außergewöhnlich und illustratorisch stimmungsvoll entworfene Roman, der eine eigentümliche Beziehung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Jugendlichen in die oberösterreichische Provinz der 1980er-Jahre und in die sich auf wunderbare Weise dehnenden Sommerferien setzt. Nicht weniger besonders als die tragische Figur des Vogelschorsch sowie die teils unzerbrechlich starke und manchmal stark zerbrechliche Ich-Erzählerin Lena ist Hannes Wirlingers Sprachform, mit der er einerseits malerisch zeitlos und andererseits zeitgemäß rotzfrech erzählt. Am Ende ist der Roman nicht nur tragisch, wie der Vogelschorsch es ist, sondern auch traurig. So traurig-schön, dass man das Wort "melancholisch" für diesen Text extra hätte erfinden müssen.
Rezension
Personen: Wirlinger, Hannes Möltgen, Ulrike
Wirlinger, Hannes:
¬Der¬ Vogelschorsch : ein Roman / Hannes Wirlinger. - Berlin : Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2019. - 301 S.
ISBN 978-3-96428-031-2 fest geb. : ca. EUR 18,50
Erzählungen und Romane - Signatur: JE Wirl - Buch: K&J Erzählend