Dietmar Grieser hatte selber eine böhmische, genauer: eine mährisch-schlesische Großmutter aus dem Hultschiner Ländchen, wie er höchst effektvoll im Vorwort darlegt. Die eigene Familiengeschichte habe ihn auf die Idee zu diesem Buch gebracht. Das Ergebnis ist eine farbige, unterhaltsame, in elegantem Stil geschriebene Kulturgeschichte am Beispiel bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten mit Wurzeln im "heimlichen böhmischen Reich". Franz Schubert, Gustav Mahler, Egon Schiele, Adalbert Stifter, Karl Kraus, Sigmund Freud, Franz Werfel, Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Adolf Loos, Leo Slezak, Maria Jeritza, aber auch Bruno Kreisky - um nur einige zu nennen - hatten heimatliche, verwandtschaftliche Bande zu "Böhmen", wobei Grieser auch Mähren und das ehemalige Österreichisch-Schlesien dazu nimmt. Das einst berühmte Prager Nobelbordell "Salon Goldschmied" in der Kamzíkova (Gemsengasse) hat das Interesse Griesers geweckt, da es Franz Werfel in der Erzählung "Das Trauerhaus" literarisch verewigt hat. Hier gingen Vertreter der Hocharistokratie, Geschäftsleute, Offiziere und namhafte Künstler ein und aus. Nicht nur Franz Werfel, Christian Morgenstern, auch Gustav Mahler oder der Startenor Alfred Piccaver hinterließen ihre "Duftmarken". Mahler freilich "gegen 4 Uhr früh in leicht derangiertem Aufzug" nur, um sich im Japanischen Zimmer ans Klavier zu setzen, ohne sich um die diensteifrigen Mädchen zu scheren, und zu komponieren und zu probieren. Was ihm hinterrücks den Spottnamen "Meschuggener" bescherte. Auch die Geschichte der "Eindeutschung" des "Wunderteam"-Stürmers Matthias Sindelar bringt dem Leser überraschende Erkenntnisse. In Kozlov im Bezirk Iglau kommt er als Matej èindelár zur Welt. Seine Eltern wandern 1905 nach Wien aus. Der Vater verdingt sich als Bauarbeiter, die Mutter betreibt eine kleine Wäscherei. Bereits 1931 ist Matthias (seiner überschlanken Figur wegen der "Papierene" genannt) der umjubelte Star der Nationalmannschaft. 1938 nimmt er Abschied vom Aktivsport und gelangt mit Hilfe der NS-Behörden in den Besitz eines "arisierten" Wiener Kaffeehauses, dessen jüdischer Vorbesitzer im Lager Theresienstadt stirbt. 1939 stirbt Sindelar selbst, knapp vor seinem 36. Geburtstag, zusammen mit seiner Geliebten an einer Rauchgasvergiftung. Der plötzliche Tod gab Anlass zu wilden Spekulationen. Grieser unkt, dass man Sindelar wegen seiner NS-Kontakte sein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof streitig machen könnte. Der neue Grieser ist wieder eine bereichernde Lektüre mit verblüffenden Informationen. Eine wirklich löbliche Fleißaufgabe ist die Konkordanz der Ortsnamen im Schlussteil, ein alphabetisches Vergleichsverzeichnis der deutschen und tschechischen Schreibweisen. *Bücherschau* Frithjof Kammerer
Personen: Grieser, Dietmar
Grieser, Dietmar:
¬Die¬ böhmische Großmutter : Reisen in ein fernes nahes Land / Dietmar Grieser. - München : Amalthea, 2005. - 280 S. : zahlr. Ill.
ISBN 978-3-85002-536-2 fest geb. : EUR 19,90
Geschichte und Kulturgeschichte einzelner Epochen und Länder - Signatur: GE GRI - Buch: Sachbuch