Das Erste, was ich sah Gleichsam so aufregend wie die berühmten letzten Worte sind im Leben eines wachen Kopfes immer auch die ersten Dinge. "Das Erste, was ich sah" ist eine Zauberformel, die oft nach einer Katastrophe oder einem Neuanfang verwendet wird. Karl-Markus Gauß gibt dem erzählenden Ich mit dieser Zauberformel die Kraft, Dinge selbst zu entdecken und das erste Mal gültig zu formulieren. Eben noch in einem Springbrunnen aus Milch im Weltall herumgeschwommen wird das Kind seinen Eltern zugestellt und hat noch lange Angst, dass vielleicht die Adresse nicht stimmt und die echten Eltern noch immer auf ihr Kind warten. In dieser Kindheitsgeschichte geht es um erste Ein drücke von der Schwerkraft der Welt, von nahen und weniger nahen Personen, um Wörter und Handlungen, die oft nichts miteinander zu tun haben, und um ein Stück Zeitgeschichte, heruntergebrochen an Figuren aus dem kleinen Alltag. Das Erste, was das Ich wirklich sieht, ist ein wütender Vater, der seine Rezensionsexemplare sogenannten Arschlöchern in den Hof hinunterwirft, die die Bücher für sich reklamieren und daraus ein Archiv machen wollen. Bücher unterliegen also Eigentumsverhältnissen und können auch Ärger auslösen. Andererseits sind diese schwarzen Zeichen, die im Buch stehen, vielleicht die Erklärung der ganzen Welt, der Erzähler schaut in das Lesebuch seines älteren Bruders und weiß schlagartig, dass ihn das weiterbringt. Auf dem Zimmerboden wird aus verschiedenem Spielzeug ein Schlachtfeld gebildet, aus dem Radio tönen Suchmeldungen verschollener Kriegsteilnehmer, Vater isst die berüchtigten Rotter-Tabletten, in der Siedlung werden die verschiedensten Dialekte gesprochen. Es sind diese kleinen Beobachtungen wie das Abziehen einer Milchhaut, die sofort die Fünfziger Jahre auferstehen lassen, unterstützt von Schlüsselwörtern wie Viertelanschluss, Roller, Sudetenland. Die Großeltern sind Opfer des Krieges geworden und werden bereits als Geschichten serviert oder man besucht den völlig verstörten Opa noch lebend, der aus dem Fenster hinausschaut in eine andere Welt. "Ich war ein braves Kind, das unverdrossen verlangte, schlimm sein zu dürfen." (61) Ein älteres Mädchen kümmert sich bis zum Umfallen um den kleinen Helden, einen Stock höher werden Mädchen zum Klavier gefotzt, im Winter bunkert sich der Erzähler aus Versehen in einem Iglu ein und erfriert fast, weil er vergessen hat, einen Ausgang zu bauen. Später gibt es dann Bücher und richtige Bücher, die richtigen Bücher sind anstrengender, aber sie erzählen etwas von der Welt, die vielleicht noch kommen wird. Die Welt der Erwachsenen kommt dann tatsächlich, freilich verlangt sie zuvor noch ein schweres Krankheitsopfer. Wie bei so vielen Initiationen sucht die Tuberkulose den Helden heim und bereitet ihn auf das neue Leben vor. Das Erste, was ich sah teilt die Leser scharf ein in Zeitzeugen und Enkel. Für die einen sind es diese abgehangenen Erinnerungsfetzen aus den fünfziger Jahren, die genau erklären, wie es gewesen ist. Für die anderen ist "das Erste was ich sah" bereits eine Großvatergeschichte, eine junge vielleicht, aber immerhin aus einer anderen, völlig aus der Gegenwart gebeamten Welt. Helmuth Schönauer
Personen: Gauß, Karl-Markus
Standort: Bibliotheksreferat
Gauß, Karl-Markus:
¬Das¬ Erste, was ich sah / Karl-Markus Gauß. - Wien : Zsolnay, 2013. - 107 S.
ISBN 978-3-552-05638-1 fest geb. : ca. Eur 15,40
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Gau - Belletristik