Es gibt Tausende Gründe, einen zeitgenössischen Roman zu lesen, einer könnte sein, dass man herausfinden möchte, wie in einem vom Bürgerkrieg bedrohten europäischen Land die junge Intelligenz tickt und welchen Themen sie sich zuwendet. Sofia Andruchowytsch gilt als ukrainischer Shooting Star der Literaturszene und hat als Tochter des berühmten Jurij Andruchowytsch vermutlich jede Menge Bonus und Malus auszuhalten. Interessant ist jedenfalls, wovon eine Autorin mitten in einer wild gewordenen Welt schreibt: Vom Leben eines Dienstmädchens im galizischen Stanislau des Jahres 1900! Im Roman "Der Papierjunge" spielt sich vordergründig alles unter einem Zauber ab, der über die Figuren, Handlungen und politischen Konstellationen gelegt ist. Die Ich-Erzählerin Stefa und ihre Geistesschwester Adelja wachsen im Multi-Kulti-Getümmel von Stanislau auf, die beiden sind unzertrennlich und fühlen sich als Geäst aus einem Stamm. Adelja heiratet den Steinmetzmeister Petro, die Erzählerin wird zu einer Dritten im Bunde, die halb als Beraterin, halb als Dienstmädchen den Haushalt schaukelt. Gegen Mitte des Romans taucht ein seltsamer Junge auf, der vorsichtshalber Felix (Felix Austria) genannt wird und an einer eigentümlichen Krankheit leidet. Er hat Gummi-Knochen und kann seinen Körper wie eine Schlange durch alle Ritzen schlängeln. Niemand weiß, woher das Findelkind der Monarchie kommt. Jedenfalls bleibt Felix bei Stefa hängen, die in seiner Betreuung eine schöne Herausforderung sieht. Dieser unheimliche Papierjunge ist angeblich Teil von einem Illusions-Zirkus, der auf der ganzen Welt unterwegs ist. Geleitet von einem Magier Thon taucht dieser Zirkus alles in Papier und bringt die gesamte Vorstellungswelt ins Schwanken, weil alles plötzlich eine Illusion sein kann. Der Zirkus kommt auch nach Stanislau und verhext vielleicht auch die Erzählerin. In einem schrillen Moment ergreift sie plötzlich das Wort und dichtet ihrer geliebten Adelja eine Affäre mit einem Priester an, die Illusion ist plötzlich wahrheitstauglich, das Gerücht wird zur Informationsquelle. Halb mitleidig, halb argwöhnisch wird die Erzählerin schließlich aus dem Roman hinaus geschoben. "Und von den einfallsreichen Bildern meiner eigenen Illusion geblendet, hatte ich nicht einmal bemerkt, dass der geschickte kleine Dieb sie gestohlen hat. / Deshalb fühle ich mich jetzt so leicht. Der Vogel hat seinen Käfig verlassen. Auf meinem Herzen lastet kein Stein mehr." (307) "Der Papierjunge" zeigt hinter dem Ambiente einer entlegenen galizischen Kaiserstadt um 1900 dann doch noch jede Menge politischer Facetten. Die akute Herrschaft der Habsburger beschränkt sich offiziell auf Manöver und Ansprachen, die Religionen scheinen allgegenwärtig zu sein und haben in jeder Seitengasse ihre Dependancen, für Frauen bleibt nur gut zu heiraten oder gut "Dienst zu boteln". Die Aufklärung ist weitgehend verhüllt durch Religion und Zauberei. Sofia Andruchowytschs Roman erweist sich unter der magischen Hülle als brodelnder Kessel für Illusionen jeglicher Art. Helmuth Schönauer
Personen: Andruchowytsch, Sofia Weissenböck, Maria
Standort: Bibliotheksreferat
Andruchowytsch, Sofia:
¬Der¬ Papierjunge : Roman / Sofia Andruchowytsch. Aus dem Ukrain. von Maria Weissenböck. - Salzburg ; Wien : Residenz-Verl., 2016. - 306 S.
ISBN 978-3-7017-1663-0 fest geb. : ca. Eur 23,60
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR And - Belletristik