Zumindest in der Literatur ist es nicht ungewöhnlich, dass jemand Suizid begeht und dadurch einen Roman auslöst. Andrea Kern legt ihren Roman "ErHängt" auf mindestens drei Ebenen aus. Einmal geht es um die Biographie eines gescheiterten Schriftstellers, sodann um das soziologische Drama, das ein Suizid bei den sogenannten Hinterbliebenen auslöst, und drittens geht es um eine adäquate Erzähltechnik, wie so eine Geschichte abgebrochener Kommunikation weitererzählt werden könnte. In den ersten Bildern zeigt sich Hilflosigkeit und Entsetzen auf den Grabgesichtern, die in der Stille im Schneefall stehen und abwechselnd eine Schaufel in die Hand nehmen, um etwas Erde ins Grab zu werfen. Frau und Tochter fühlen sich von den Worten des Pfarrers nur vage angesprochen, während dieser dem Schriftsteller Leon einen seltsamen Nachruf hinterherschickt. Leon ist mit dem Leben und der Schriftstellerei nicht zurechtgekommen und hat deshalb einen Schlussstrich gezogen. Während Mara und Hannah, Tochter und Mutter, überlegen, was von der Familie jetzt noch übrig ist, ist das ganze Trauerleben in ruckartigen Assoziationen mit dem Verstorbenen verlinkt. In dutzenden Kapiteln werden nun die mannigfaltigsten Methoden vorgestellt, wie man dem Loch, in das die Trauernden gefallen sind, entsteigen könnte. Dabei kommt manchmal die Innensicht der Protagonisten in ganzen Sätzen zum Vorschein, dann sind es wieder Wortfragmente, die scheinbar ohne Bezug zum Verstorbenen herumirren, oft gibt es Ausschnitte aus diversen Ratgebern, dann kommt wieder ein lapidarer Eintrag zum Vorschein, worin generell die gängigsten Todesarten beim Suizid referiert werden. Während viele Rituale der Reihe nach ausgetestet werden, was vielleicht erhellend und hilfreich sein könnte, zeigt sich das brüchige Idyll einer Familie, die Vieles sprachlos erledigt hat. Im Mittelpunkt dieser Kommunikationsstörung "hängt" Leon, von dem man nur vermuten kann, wie er als Schriftsteller gescheitert ist. "Die Welt der Einsamen. Leons Buchfigur. […] Im Supermarkt riss er wahllos Lebensmittelpackungen auf. Stopfte, mampfte, schlürfte, rülpste, spuckte, kaute. Überreife Bananen, fettige Makrelen, tränenscharfe Chilipaste, Blasen werfendes Joghurt, imitierter Kaviar. Der Mensch wird ohne Menschen zum Tier." (127) In der Hinterlassenschaft ist mit der Zeit kaum noch festzustellen, was von Leon als Autorensprache zu deuten ist und was als Figurensprache gelten könnte. So stellt sich dann auch die Frage nach der Authentizität der Trauer. Ist sie nun eine individuell steuerbare oder folgt sie einer stillschweigend vorausgesetzten Dramaturgie, der die Figuren zu gehorchen haben? Andrea Kern ummantelt den kalten Kern des Suizids mit einer Fülle von Erzählweisen, Formulierungen und Ritualen, die allmählich Spuren von Verständnis hinterlassen. Freilich bleibt dieser Riss zwischen dem ErHängt und Wir fallen bestehen, aber zumindest Umarmungen in Worten gibt es dazwischen. Helmuth Schönauer
Personen: Kern, Andrea
Standort: Bibliotheksreferat
Kern, Andrea:
ErHängt. Wir fallen : Roman / Andrea Kern. - Wien : Picus, 2015. - 263 S.
ISBN 978-3-7117-2027-6 fest geb. : ca. Eur 19,90
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Ker - Belletristik