Locker, Liane
Reberg Roman
Buch

Warum zittern Ihre Hände, Herr Professor? Liane Lockers Gymnasialroman »Reberg« Es gibt Erzählungen, die auf den Wiedererkennungseffekt setzen und treffende Worte finden für etwas, das Leser immer schon ausdrücken wollten, aber nicht konnten, und es gibt Bücher, die neue Welten zu eröffnen vermögen. Liane Lockers Roman gehört eindeutig zu den erstgenannten. Die Autorin ist neben ihrer künstlerischen Tätigkeit Lehrerin und tut das, was sie gut kann; vom Unterrichten erzählen. Wir müssen sie uns als engagierte und überaus kritische Pädagogin vorstellen. Denn die Professorin für Deutsch und Geschichte an einem Linzer Gymnasium hat mit ihrem Unbehagen am Bildungssystem und den Bedingungen ihres Berufes nie hinter dem Berg gehalten: »Das Haus Schule muss im Grunde abgerissen und neu aufgebaut werden« und »nicht jeder muss Matura haben.« So oder ähnlich äußerte sich Liane Locker in den Interviews zum Erscheinen ihres neuen Buches immer wieder. Und doch wäre es ein Missverständnis, läse man ihren Roman in erster Linie als Beitrag zur endlosen Debatte über das österreichische Schulsystem und die Rolle des Gymnasiums darin. Pädagoginnen und Pädagogen neigen mit Recht zur Unzufriedenheit über ihre Arbeitsbedingungen, aber das mancherorts hörbare Gesudere wollte Locker bewusst vermeiden. Sie konzentriert sich ganz auf die Innenperspektive des Unterrichts und erzählt routiniert und nachvollziehbar, wie sich ein gymnasialer Alltag für Lehrende und Lernende mit seinen Schatten- und vereinzelten Lichtseiten anfühlt. Nach all den gescheiten oder enervierenden Büchern über Bildung, unsinnigen Verordnungen und verschlimmbessernden Reformvorschlägen liest sich das für den Leser (besonders wenn er wie der Rezensent auch aus dem Berufsfeld Schule kommt) durchaus sympathisch. Denn hier geht es einmal nicht um Organisation und Außensicht, sondern ausschließlich um Leben und Erleben der Betroffenen; ihre Grundsatzkritik an der Schulmisere hat die Autorin raffiniert in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Romanfiguren verschoben. Nun gibt es eine Fülle historischer und aktueller Prosawerke, die ebenso den Schulalltag beschreiben und vom Leiden der Schülerinnen und Schüler an sich selbst, den Kameraden und den Lehrpersonen erzählen. Die negativen Erfahrungen unter der Tyrannei der Lehrer überwiegen dabei meist. Seit einiger Zeit scheint sich allerdings in der Literatur die Opferrolle von den Schülern auf das Lehrpersonal verschoben zu haben: Gott Kupfer war gestern, heute beherrschen, wie es Ulrich Rüdemann in einem ausführlichen Essay in der ZEIT formulierte »immer mehr Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs den neuen deutschen Roman«. Lockers Text bestätigt diesen Befund über neue Lehrerromane auf ihre Weise, spielt aber darüber hinaus mit Bezügen auf den berühmtesten Schulroman der österreichischen Literatur. Friedrich Torbergs Der Schüler Gerber soll in Lockers Professor Reberg gewissermaßen eine spiegelverkehrte Hommage bekommen: Reberg als Beinahe-Palindrom von Gerber. Wie bezieht sich die Autorin auf den oft zitierten Referenztext?; In Lockers Roman geht es wie in jenem um Angst und Scheitern im Schulkontext. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Freunde. Stefan Reberg, Deutsch- und Lateinlehrer, ist als Hauptfigur ein Gegenentwurf zu Gott Kupfer. Er ist es, der leidet und schließlich wie Torbergs Gerber den Tod findet. Sein Freund Joachim Beltzer wiederum ist Mathematiker am selben Gymnasium und versucht herauszufinden, was Stefan Reberg in den Selbstmord getrieben hat. Als Klassenvorstand einer Maturaklasse erfährt Joachim vom Klassensprecher, dass Stefan kurz vor seinem Tod bei der Aufsicht während der letzten Mathematikschularbeit vor der Matura eine Art Widerstandsgeste gesetzt und die Schüler aufgefordert hat, doch abzuschreiben (»sich gegenseitig zu helfen«), was nach einer Schrecksekunde auch alle tun. Der Perfektionist und Wahrheitsfanatiker Stefan hat darüber hinaus dafür gesorgt, dass der Vorfall öffentlich wird. Dies löst die weiteren Handlungsschritte aus, in denen Locker den Protagonisten Joachim die Ursache für Stefans Tod recherchieren und Stefan seine Sicht der Dinge erzählen lässt. Das geschieht durch eingeschobene Zitate aus Stefans Tagebucheintragungen, die ein Jahr vor seinem Tod einsetzen. Die beiden Berufskameraden hatten sich vor Jahren nach dem Unterricht regelmäßig in einem griechischen Lokal getroffen, dort allen Berufsfrust beredet und ihre gescheiterten Träume in Ouzo ertränkt. Diese bald eingestellten Gespräche finden in den inneren Monologen Joachims und in Stefans Aufzeichnungen, die sein Freund erst nach seinem Tod finden wird, eine virtuelle Fortsetzung. So erfährt man auch, dass Stefan immer mehr einem unbekannten Erpresser nachgegeben und für ihn alle Schularbeiten- und Testaufgaben der Maturaklasse in der Schülertoilette deponiert hat. Mit diesen Vorgängen sind auch die Schicksale wichtiger Nebenfiguren verknüpft: da sind zum einen der Acht-Klassler Tom und seine Freundin Eva mit ihrer schwierigen Vaterbeziehung. Zum anderen bieten die Turbulenzen um den vermeintlichen Schummel-Skandal die Gelegenheit, die Reaktionen und Gedanken des Direktors sowie der Ehefrauen Stefans und Joachims zu schildern. Über dem ganzen Roman schwebt die Frage: Warum hat sich dieser nach außen hin so souveräne Lehrer umgebracht? Verbunden mit der Ungewissheit über die Gründe für sein »verräterisches« Tun und seine schrecklichen Angstzustände (»Warum zittern Ihre Hände?«) bleibt diese Frage auch am Ende des Romans ohne klare Antwort. Es ist der Spekulation des Lesers überlassen, ob der beliebte Deutschlehrer am Tod seiner Ideale, einer Angststörung oder einem massiven, verheimlichten Burnout zerbrochen ist. Abgesehen von wenigen verbindenden Erzählschritten arbeitet Liane Locker hauptsächlich mit inneren Monologen, die in rascher Folge abwechseln und aus unterschiedlichen Perspektiven nach Gründen für den Selbstmord fragen, die Figuren charakterisieren oder über Grundfragen der Pädagogik räsonieren. Das ist sprachlich gewandt und inhaltlich glaubhaft geschrieben, sehr viel mehr nicht. Manchmal hätte man sich präzisere Formulierungen und eindringlichere Beobachtungen gewünscht, die für Leser und Leserin weitere Perspektiven eröffnen als das, was eine solid gemachte TV-Vorabendserie aus dem Schulmilieu auch leisten kann. Im Ton hält der Text die Waage zwischen zaghafter literarischer Überhöhung und alltagsschlichtem Konferenzzimmergespräch. Liane Lockers Roman weist zwei große Stärken auf: Zum einen finden sich großartige Blitzlichter, die schulische Alltagsmomente in allen Einzelheiten trefflich und scharf ausleuchten – die Atmosphäre eines Sprechtags etwa, das Pausengehetze, die Abwehrmechanismen und Verhaltensrituale von Lehrern. Zum anderen wirft der Roman so ziemlich alle Fragen auf, die jeder Lehrerin und jedem halbwegs sensiblen Lehrer schon durch den Kopf gegangen sind. Daher sei Liane Lockers Roman wenigstens allen Lehrenden zur raschen Ventil-Lektüre und Burnout-Prophylaxe empfohlen. Alle anderen Leser können sich neben einem flott geschriebenen Einblick in schulische Innenwelten an einigen gut umrissenen Figuren erfreuen, die in ihrer Lebensmitte vor den Trümmern einstiger Ideale und Lebenspläne stehen.


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Personen: Locker, Liane

Interessenkreis: österr. Autor

Locker, Liane:
Reberg : Roman / Liane Locker. - Wien : Milena, 2018. - 208 S.
ISBN 978-3-903184-04-6 fest geb.

Zugangsnummer: 2024/0256 - Barcode: 00001467
Politische und sozialkritische Romane - Signatur: DR.Z Locke - Buch