Quelle: Apropos. Straßenzeitung für Salzburg (http://www.apropos.or.at/) Nie wieder werde ich dir nahe sein Franz Innerhofer erzählt in seiner Trilogie "Schöne Tage", "Schattseite" und "Die großen Wörter" seinen eigenen Weg der Befreiung. Die Siebzigerjahre klassifizierten "Schöne Tage" als Prototyp des Anti-Heimat-Romans, Innerhofer wurde als Nestbeschmutzer denunziert, der schlagende, gewalttätige Großbauer, der seine Schüler schlagende Lehrer - war doch alles in Ordnung? Oder etwa nicht? Holl, der Protagonist Innerhofers autobiografischen Debütromans (1974), wächst in Haudorf auf, Prügel gehören zum Alltag, Kinder sind Arbeitskräfte und müssen gezüchtigt werden, wenn aus ihnen was Ordentliches werden soll. Holl ist der ledige Sohn des Bauern, für einen Vornamen reicht es nicht: Kinder sind unbezahlte Arbeitskräfte, denen der Willen gebrochen gehört und nur wenige von ihnen entkommen dieser Vorhölle. 2016: Wieder erscheint ein Debutroman, der Gewalt an Kindern und Frauen zum Thema macht. Wieder am Land, in einem kurdischen Dorf in der Türkei prasseln die Hiebe auf die 12-jährige Filiz, ihre Geschwister und ihre Mutter nieder. Wieder schlägt der Mann, der Vater zu: Die Mädchen kennen die unterschiedlichen Blautöne auf der Haut ihrer Mütter und Freundinnen, die Buben genieren sich, wenn auch ihr "Blauschmuck" - so auch der Buchtitel - sichtbar wird. Filiz träumt von einem besseren Leben, ist die beste Schülerin der Klasse und heiratet 15-jährig Yunus, den mit den schönen Augen: Deutschland, ein glückliches Leben in Jeans, kein Schleier mehr. Doch Filiz wird von ihrer Schwiegermutter als Sklavin gehalten, Yunus schlägt und vergewaltigt sie, drei Kinder überstehen die Hiebe noch im Mutterleib. Schließlich der Aufbruch nach Österreich, Yunus handelt mit Immobilien, Filiz wird weiter von ihm misshandelt und lernt heimlich Deutsch. Kurze Sätze für kurze Hiebe, gekonnter Wechsel zwischen Ich-Perspektive und beobachtendem Erzählen, Katharina Wallner gibt Luft und Raum zwischen den Seiten, verzichtet auf große Gesten und Pathos. Sie mutet Wahrheit und Wirklichkeit zu: "Du schlägst mich tot, aber du kommst mir nicht nahe." Nach drei Monaten wird Filiz aus dem Krankenhaus entlassen, sie wird von Yunus geschieden, lebt 18 Monate im Frauenhaus - das steht im Nachwort, alles ist wahr und es darf Hoffnung geben. siehe auch: Franz Innerhofer: Schöne Tage *Apropos* ---- Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Sabine Eidenberger; Sprachlich faszinierendes Porträt einer misshandelten Frau. (DR) Den Blauschmuck tragen die Frauen des kurdischen Dorfes in der Türkei am Hals, im Gesicht, an den Beinen. Je nachdem, wohin sie der Ehemann, der Vater, der Bruder geschlagen hat. Er ist Initiationszeichen, er macht sie zugehörig, zeigt Besitz an. Die österreichische Autorin erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte einer ihr bekannten Migrantin. Die Geschichte von Filiz geht gut aus, andernfalls, so Katharina Winkler im Ö1-Interview, hätte sie sie nicht aufschreiben wollen. Sie beginnt in einem kurdischen Dorf, wo Filiz - anders als man bei dieser Thematik erwarten würde - zunächst heimlich ihre große Liebe heiratet und die beiden von einer gemeinsamen Zukunft in Blue Jeans in Deutschland träumen. Doch nach der Hochzeit ist alles wie immer: Filiz wird zum Besitz, sie wird geschlagen, sie trägt Burka, sie bekommt Kinder. Die Familie geht schließlich ins Ausland, aber Freiheit gibt es auch hier keine, bis die Behörden aufmerksam werden. Das Lesen fällt einem schwer, das Buch ist aufwühlend, macht wütend und lässt einen die Hilflosigkeit der Protagonistin heftig nachfühlen. Doch es stellt sich auch die Frage, ob man einem Einzelnen Schuld zuweisen kann, der in einer derartigen Gesellschaft groß wurde, wo der Mann eine Naturgewalt zu sein hat. Der doch eigentlich auch große Träume hatte und von Liebe sprach, aber von Kind an nur Gewalt vorgelebt bekam. Immer wieder rettet einen die wunderbare Sprache, in der die Erzählung gehalten ist, davor, das Buch entsetzt wegzulegen. Lyrisch, sehr orientalisch, dann wieder kurz und prägnant erzählt Winkler diese ergreifende Geschichte. Für alle Bestände, auch wegen des Österreich-Bezuges, sehr zu empfehlen. ---- Quelle: Pool Feuilleton; In der archaischen Überlebensliteratur ist nie ein Satz zu viel vorhanden, deshalb kann man auch jeden Satz als Lebensprogramm anerkennen. Katharina Winkler schafft etwas schier Unmögliches, sie überlässt ihre Heldin einer brutalen Welt voller Gewalt, die sich nur aushalten lässt, wenn die Schläge wie Sprichwörter inhaliert und devot nachgebetet werden. Die Welt im entlegenen Kurdengebiet ist dürr und blutig. Die Frauen werden von den Männern durchgehend geschlagen, ihre Verwundungen zeigen sie anderntags verschämt untereinander her und nennen die blauen Flecken Blauschmuck. Auch sonst sind die Spielregeln scheinbar Naturgesetzen nachempfunden, in der Dunkelheit etwa muss man aufpassen, denn davon wird man schwanger. (21) Filiz ist zehn Jahre alt, als sich an der Stalltüre ihr Leben verändert. Sie ist jetzt ihrem Yunus versprochen, aus eigenem Antrieb, denn sie will nicht vom Vater verheiratet werden. Yunus wird zu einem Gott, der jeden Atemzug bestimmt, als sie schließlich zur Hochzeit über die Schwelle seines Hauses tritt, tut sich dahinter satt des Paradieses die Hölle auf. Im neuen Haushalt sitzt die Spinne, die als Schwiegermutter wie in einem schlechten Witz das Fremde und Furchtbare verkörpert. Die Hochzeitsnacht wird von der Verwandtschaft argwöhnisch überwacht und alle reden von dieser blöden Jungfernschaft, die irgendwo zwischen den Beinen sitzt und hergezeigt werden muss. Von der ersten Nacht an gibt es Blauschmuck en masse. Yunus wird zu einem Tier, das stößt und stößt, bis drei Kinder da sind. Militäreinsatz des Mannes, wilde Spinne, hungernde Kinder: Filiz versucht, alles auszuhalten. Sogar als sich das dritte Kind nicht abtreiben lässt, nimmt sie es geduldig hin und tauscht die Abtreibungssumme gegen einen Kühlschrank. In kleinen Schüben nämlich versucht Filiz auszubrechen, landet zuerst in der Hauptstadt und kommt schließlich nach Österreich. Das Leben im Land, wo alle Jeans tragen und frei sind, gleicht für Filiz immer noch jenem Blauschmuckdasein, dem sie gerade zu entfliehen versucht hat. Freilich greift in Österreich der erste Arzt ein, als er die blauen Flecken sieht. Yunus wird abgeschoben, Filiz verliert allmählich den Blauschmuck. In einem Nachspann wird der Innensicht der Heldin auf einer Seite trockener Beamtensprache der Beweis der Befreiung gegenübergestellt. Das Schicksal der Kinder erweist sich als Erfolgsgeschichte, alle erhalten eine Ausbildung und finden sich in der Blauschmuck-losen Welt bestens zurecht. Der abgeschobene Yunus soll zu Hause noch einmal geheiratet haben, seine drei Kinder nennt er wieder nach den ersten, die er an die freie Welt verloren hat. Katharina Winkler erzählt in einem straffen inneren Monolog, worin die Sätze als Schmerzmittel herhalten müssen und dennoch erst den Schmerz verursachen, weil sie die Dinge beim Namen nennen. Manchmal sind es nur kurze Seitenblicke auf den Alltag, die so etwas wie einen Zeitfluss vermitteln. Sonst funktioniert alles wie in einem Tierfilm Marke Universum: Rammeln, schlagen, bluten, am Abend, in der Nacht. - Diese Innensicht einer geschlagenen Seele ist beim Lesen kaum auszuhalten und dennoch brutal erhellend. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Winkler, Katharina
Winkler, Katharina:
Blauschmuck : Roman / Katharina Winkler. - Berlin : Suhrkamp, 2016. - 197 S.
ISBN 978-3-518-42510-7
Romane - Signatur: DR Win - Buch