Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Reinhard Ehgartner; Ein niederösterreichischer Bauernhof in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges. (DR) Während der Alltag zwischen Arbeit und kirchlichen Festen seinen gewöhnlichen Fortgang nimmt, wird die kleine Welt des Leithnerhofes mehr und mehr zum Schauplatz und Spielball des großen Kriegsgeschehens. Als nach einem aus den Trümmern geretteten donauschwäbischen Mädchen mit "Kriegsschaden" auch noch ein geflüchteter russischer Kriegsgefangener am Hof strandet und kurze Zeit später drei Wehrmachtssoldaten Quartier beziehen, spitzt sich die Lage zu. Am Ende wird der Großvater wortlos handeln. An den Eingang der Erzählung setzt Hochgatterer als eine Art Motto eine Definition von "Ausnahmezustand" - und in einem solchen Ausnahmezustand leben sie alle, die hier unter einem Dach zusammenfinden, miteinander leben, einander skeptisch beobachten. Wie jedes Jahr sind die Schwalben zurückgekommen, am Himmel tauchen aber auch Bomber auf, die Kurs auf die kriegswichtigen Nibelungenwerke in St. Valentin nehmen. In kurzen Episoden, dem Kalender folgend, erleben wir zwei Wochen, in denen das Private und der Krieg in ein zunehmend gefährliches Ringen miteinander geraten. Sinniert wird viel, geredet wird wenig, und selbst die Erzählperspektive befindet sich in einer Art Ausnahmezustand, denn berichtet wird meist aus dem Blickwinkel der 13-jährigen Nelli, jener Verschütteten und Kriegsgeschädigten, die sich hinter ihrer Verletztheit doch einen wachen Geist bewahrt hat. Dazwischen eingefügt finden sich kleine Binnenerzählungen - Rettungsgeschichten um ein Kind und einen amerikanischen Flieger zeigen, wie in Ausnahmesituationen kurze Momente über Leben und Tod entscheiden. Paulus Hochgatterer hat hier einen außergewöhnlichen und beeindruckenden Text vorgelegt: Kleine unverbundene Szenen entwickeln in der Präzision ihrer Erzählung eine Kraft, die einen geradezu nötigt, die verstreuten Erzählsplitter in der eigenen Vorstellung zu einem größeren Zeitspiegel zusammenzufügen. ---- Quelle: Pool Feuilleton; In Ausnahmezeiten zeigen sich die tiefsten Schichten der Persönlichkeit auf der Außenseite der Helden, während das übliche Gehabe oft in der Tiefe verschwindet. Wendezeiten wenden Innenwelt und Außenwelt des Individuums. Paulus Hochgatterer erzählt im Stile jener Gutachten, die er oft über die Psyche von irritierten Kindern verfassen muss, von Menschen im Ausnahmezustand in den letzten Kriegswochen. Auf einem Bauernhof im Gelände zwischen Linz, St. Valentin und Amstetten taucht ein verstörtes Mädchen auf, das ein paar Brocken einer verschütteten Biographie ausspuckt. Aus der Innensicht erfahren wir, wie es über das Sprechen der anderen, über Seitenbemerkungen und Brocken der Erinnerung zu einer schlüssigen Identität findet. Man nennt es Nelli, es ist bei einem Bombenangriff auf die Nibelungenwerke übriggeblieben und angeblich Donauschwabe. Ein ähnliches Identitätsspiel wiederholt sich, als der Künstler Michail auftaucht, er ist vielleicht auf der Flucht, weil er aus der Nähe von Minsk ist und für einen gefangenen Russen gehalten wird. Seine Malerkünste sind vermutlich Tarnung, denn in diesen Tagen muss sich jeder seine Geschichte zusammensetzen. Gefährlich wird es, als ein Wehrmachtsleutnant mit zwei Gefreiten auftaucht und sich zuerst verpflegen lässt, ehe er dann doch noch zum Standrecht greift. Oder auch nicht, denn in die Erzählung von den Identitäten sind drei Geschichten vom Beinahe-Sterben eingearbeitet. Ein Bub darf mit dem Ackerschlepper in die Au mitfahren und ertrinkt nach gängiger Erzähl-Lage. Andererseits wird er gerettet, sagen andere, zumindest die erzählte Nahtod-Erfahrung ist gewiss. In der zweiten Geschichte fliegt ein amerikanischer Bomberverband Richtung Linz, ein gewisser Benjamin Shaffer wird abgeschossen und der Mob will ihn lynchen. Da tritt ein Besonnener hinzu und liest aus seiner Militärmarke vor, dass er gegen Tetanus geimpft ist. Diese Erkenntnis beruhigt die Masse und man überstellt den Gefangenen in ein Lager. In der dritten Episode wir Michail standrechtlich erschossen, nach anderer Erzählweise wendet sich der Leutnant ab, weil Kriegsschluss ist. Wir Leser können uns wünschen, was wir für richtig halten, und so könnte die Geschichte dann gewesen sein. Auf jeden Fall müssen wir einen gewissen Standpunkt einnehmen, um die Geschichte begreifen zu können, und darum geht es, richtig und falsch kommt später. Paulus Hochgatterer erfüllt diesen verzweifelten Lesern, die zwischen den Stühlen der Entscheidung sitzen, einen letzten Wunsch und lässt die Sache gut ausgehen. Der Großvater irritiert den Leutnant und schießt ihm eine Schrotladung in die Brust. Ja, jetzt ist die Geschichte gut ausgegangen und der Großvater vielleicht ein Held, aber hilft uns dieses gute Ende über die Leseromantik hinaus? Helfen nicht vielleicht die brutalen Geschichten mehr als die therapeutischen? Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Hochgatterer, Paulus
Hochgatterer, Paulus:
¬Der¬ Tag, an dem mein Großvater ein Held war : Erzählung / Paulus Hochgatterer. - Wien : Deuticke, 2017. - 110 S.
ISBN 978-3-552-06349-5 EUR 18.50
Romane - Signatur: DR Hoc - Buch