Mitunter liegt die leidenschaftliche Kraft fiktionaler Geschichten im unverhofften Wechselspiel der Blickwinkel oder im Sog süffisanter Dramatik. In ihrem Debüt bedient Raquel Palacio beide Aspekte souverän. Ihre Hauptfigur, ein zehnjähriger Junge, ergreift als erster das Wort: "Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt - es ist schlimmer." August soll nach siebenundzwanzig Gesichtsoperationen erstmalig wie ein normales Kind zur Schule gehen. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, glaubt der Vater, und auch August ist sich gewiss: Alle werden ihn anstarren. Aber es kommt noch schlimmer. Die Kinder entwickeln ein geheimes Pestspiel, die wenigen, die sich mit August abgeben, scheinen vom Rektor dazu angehalten worden zu sein, und einflussreiche Eltern halten August für eine zu starke seelische Belastung für ihre Kinder und drängen darauf, ihn von der Schule zu verweisen. Auf dem Höhepunkt dieser emotionsreichen Auseinandersetzung um den Jungen wechselt die Erzählperspektive auf seine bis dahin unscheinbare Schwester Via und deren Freunde. Die spannendste Figur im gesamten Ensemble ist Augusts neuer Klassenkamerad Jack. Als der Direktor im Rahmen der Abschlussfeier am Ende des Schuljahres die Ehrenmedaille für außergewöhnliche Leistungen, für Stärke und Mut verleiht, dachte die Leserin an Jack, nicht an August. Schließlich war Jack von Anbeginn der mutige Wanderer zwischen den Welten und vermutlich auch der, der am meisten über sich und für sich gelernt hat, während August vorerst natürlich einfach der ist, der er ist. Das ein wenig pathetische, amerikanische Ende tut der Sache keinen Abbruch, ist Balsam für die Seele, die das Buch in Aufruhr zu bringen versteht. Aufruhr nicht zuletzt dadurch, dass Raquel J. Palacio es vermag, bei den LeserInnen ihres Romans nie das sichere Gefühl zuzulassen, auf der Seite des Außenseiters zu stehen. August ist der, dem man - theoretisch und moralisch betrachtet - helfen möchte, aber auch der, den man instinktiv genauso wenig anfassen würde. Vielleicht ertappen sich aufmerksame LeserInnen gar beim Starren. Denn wer schließlich will nicht genau wissen, wie hässlich er wirklich aussieht?
Personen: Palacio, Raquel J. Mumot, André
Standort: Bibl.u. Mediens
Pala
Palacio, Raquel J.:
Wunder / Raquel J. Palacio. Aus dem Engl. von André Mumot. - 7. Auflage. - München : Dt. Taschenbuch-Verl., 2016. - 445 Seiten. - (dtv;; 62589) (Reihe Hanser)
Einheitssacht.: Wonder
ISBN 978-3-423-62589-0
Zugangsnummer: 0022105001
Pala - BUCH