Wenn Frauen sich verweigern. Ein explosives Gedankenexperiment. (DR) Was, wenn jene, die Sorgearbeit verrichten, aufhören sich zu kümmern? Wenn sie der Müdigkeit nachgeben und sich einfach hinlegen auf die Straße? Mit ihrem zornigen Roman »Die Wut, die bleibt«, in dem sie das Ungleichgewicht in der Fürsorgearbeit zwischen Männern und Frauen thematisierte und die Erschöpfung einer Mutter in der Pandemie knallhart vor Augen führte, wurde Mareike Fallwickl einer breiten Leserschaft bekannt. In ihrem mit großem Interesse erwarteten neuen Buch schildert die Salzburger Autorin, was passiert, wenn das System zusammenbricht, weil jene, deren Überlastung jahrelang von Politik und Gesellschaft ignoriert wurde, ihre Arbeit niederlegen. Um endlich gesehen und gehört zu werden, greifen sie zum letzten Mittel. Sie entziehen dem System, das auf sie angewiesen ist, ihre Kraft, ihre Zeit, ihre ständige Verfügbarkeit und verweigern sich. Ein stiller, stummer Protest. Gewaltfrei. Fallwickls neuer Roman, der von Solidarität unter Frauen, von Pflegenotstand, weiblicher Überlastung und Unsichtbarkeit der Sorgearbeit handelt, startet unerwartet ruhig und bedächtig. Die Revolte der Frauen beginnt friedlich und ungeplant aus der Situation heraus, wächst dann zu etwas unvermutet Großem. Ihre Verweigerung bringt Wut, Unverständnis und Gewalt bei jenen hervor, die auf ihr Funktionieren zählen. Der Text könnte mit Input zum Thema Care-Arbeit überfrachtet wirken, wären da nicht die bemerkenswerten Protagonist*innen, die Fallwickl ins Zentrum ihrer Geschichte stellt. Figuren, von denen man so noch nicht oft gelesen hat, mit gänzlich unterschiedlichen Lebensumständen und berührenden Herkunftsgeschichten. Authentisch und jede für sich in ihrem Spannungsfeld interessant: Da ist die Influencerin Elin, Anfang zwanzig, die den Kommentaren im Netz zu entfliehen versucht und sich nicht sicher ist, ob das, was ihr gerade widerfahren ist, schon Gewalt ist. Der 19-jährige Schulabbrecher Nuri, der rund um die Uhr als Bettenschubser, Barkeeper oder Fahrradkurier für eine bessere Zukunft schuftet. Und die Krankenschwester Ruth, Mitte fünfzig, eine, die sich bis zum Umfallen kümmert und für die die absolute Entkräftung angesichts der Unterbesetzung im Krankenhaus zum Normalzustand gehört. Fallwickl hat sehr viel recherchiert und ihren vielschichtigen Roman mit ungemein viel Faktenwissen angereichert. Bei aller Drastik des Inhalts erzählt sie virtuos, poetisch, mit tollem Sprachgefühl und in eingängigem Rhythmus. Äußerst aktuell, diskussionswürdig, gut geschrieben und unbedingt empfehlenswert!
Personen: Fallwickl, Mareike
Leseror. Aufstellung: Öffentliche Bücherei
DR.G
FALL
Fallwickl, Mareike:
Und alle so still : Roman / Mareike Fallwickl. - Hamburg : Rowohlt Hundert Augen, 2024. - 367 Seiten
ISBN 978-3-498-00298-5 Festeinband : EUR 23,70 (AT)
DR.G - Buch: Dichtung