Roth, Gerhard
Der Strom
Buch

Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Martin Prinz; Die innere Stimme / Über Gerhard Roths Roman "Der Strom" Der neue Roman von Gerhard Roth verfolgt elf Tage im Leben der jungen Hauptfigur Thomas Mach. Elf Tage in Ägypten, in Kairo, die ihr Leben verändern. Kurz zuvor ist dort eine junge Reiseleiterin namens Eva Blum bei einem Sturz aus dem Fenster ihres Zimmers im 16. Stockwerk des Sheraton-Hotels ums Leben gekommen. Mach, der Eva Blums Stelle antritt, bezieht nicht nur ihr Zimmer, sondern tritt überhaupt an ihre Stelle. Wegweiser für dieses Unterfangen ist ihm ein sogenanntes Studientagebuch der toten Reiseleiterin. Im Kapitel "Zusammenhänge", das den Ankunftstag beschließt - das Buch ist in Tage gegliedert, und die Tage werden durch einzelne, oft kürzeste, Kapitel geteilt -, wacht Mach in der ersten Nacht auf, um sich zu vergewissern, wie es heißt, daß er tatsächlich das Wort "Mörder" in Eva Blums Studientagebuch gelesen hat. "Geleitet von Evas Tagebuch und seiner inneren Stimme", steht am Buchumschlag über den weiteren Verlauf dieses Reise- und Kriminalromans, "setzt sich Mach auf die Spur der Verstorbenen. Er durchstreift die Straßen von Kairo und Alexandria, unternimmt Abstecher zu Klöstern und Oasenstädten und verstrickt sich dabei immer tiefer im dichten Gewebe einer fremden Wirklichkeit und in den undeutbaren Schleifen der arabischen Schrift. Als plötzlich der Ehemann von Eva Blum auftaucht, scheinen sich die Dinge endgültig zu einem Kriminalfall zu entwickeln. Wie viele Leben führte Eva wirklich?" Zwar ist diese Klappentextstelle etwas aufgeladen formuliert, dennoch sind hier Schlüsselbegriffe zu Roths Roman wie "Tagebuch, Spur, Wirklichkeit, Schriftzeichen" oder "innere Stimme" versammelt. Und womöglich zeigt sich schon an ebendieser Kombination, warum dieser in vielen Momenten außergewöhnliche Text dennoch, zumindest partiell, scheitert. "Der Strom" ist ein Buch der Augenblicke, unendlich vieler Augenblicke. Der Roman beginnt mit einem wundersamen Bild vom Nil aus der Flugzeugperspektive. "Glimmende Wasseradern" sieht Thomas Mach, kaum hat er, "geblendet vom Sonnenlicht", die Augen geöffnet: "Verschlafen blickte er auf den glitzernden Nil hinab und dachte erstaunt, daß ein imaginärer Pinsel das Wasseraderngeflecht aus Kanälen und Seitenarmen mit Goldfarbe bestrich, mit Giottogold, der entrücktesten und überirdischsten Farbe." Im nächsten Augenblick ist all dieses Strahlen verschwunden, "lagen die eben noch glimmenden Wasseradern blaß und erloschen hinter ihm und lösten sich im Dunst auf, während die Lichtspiegelungen weiterwanderten, als seien sie Impulse, die über ein System verborgener elektrischer Leitungen die ausgedehnte Flußmündung (die das winzige Detail eines unermeßlichen Freskos war) zum Aufleuchten bringen würden." Gerhard Roths Roman ist voll mit solchen eigenartig schönen Augenblicken, mit Stadt- und Landschaftsbeschreibungen, die alle Gegenwärtigkeit beschwören, sich im buchstäblich nächsten Augenblick wieder auflösen, bis der Roman in seinem letzten Augenblick in einem Wiederholungsbild des oben zitierten Auftakts endet. Nichts anderes als alles zwischen dem Öffnen und dem Schließen der Augen will Roth erzählen, eindringen in jene Bereiche, die Walter Benjamin in Abwandlung Freudscher Begrifflichkeit das optisch Unbewußte nennt. Und tatsächlich liefert sich dieses Buch Sinnesreizen geradezu exzessiv aus. Am Ende ist der Erzähler am Nil gelandet, Mach wird in Ägypten bleiben, womöglich für immer, und dementsprechend blitzt in diesem Schlußbild auch eine Ahnung von Tod auf: "und Thomas Mach dachte an sein Segelflugzeug, als sie rasend schnell den Fluß hinaufglitten. Geblendet vom Sonnenlicht, das vom Wasser reflektiert wurde, schloß er die Augen." Vielleicht ist allein der Augenblick des Todes jener, in dem "es keine Zeit gibt", "alles Gegenwart ist, die wie ein Leuchten außerhalb unserer Blindheit liegt", wie es im vorangestellten Nabokov-Motto heißt. Illusionslos erzählt Roth von solcher Verlockung, die nach Nabokov dennoch nur "eine ebenso endliche Hypothese wie alle übrigen ist". In seinen Bildern, seiner Augenblicksarbeit besticht Gerhard Roths Roman. In präziser und oft funkelnder Prosa setzt er sich auf die Spuren so genannter Wirklichkeit, stellt ihre stets unüberwindbare Fremdheit in diesem Tage-Buch, in dem konsequenterweise zwei Tage einfach als leere Seiten stehen bleiben, dar. Selbst wenn in der größtmöglichen Erzählklammer zwischen Anfangs- und Endbild sich der Tod Eva Blums widerspiegelt, erscheint dies nicht überladen, bleiben die Bilder vielschichtig genug, um nicht in gleichzeitiger Selbstinterpretation leer zu laufen. Bei Thomas Mach, der Hauptfigur, allerdings ist dem leider nicht so. Zwar heißt es in einer, angesichts der Todesart Eva Blums, weiteren Parallelsetzung: "Manchmal überkam ihn beim Fliegen das Verlangen, auf die Erde hinunterzustürzen, alle Angst war dann von ihm gewichen, stattdessen verspürte er bei der Vorstellung des freien Falls nur Lustgefühle. Gleichzeitig war er davon überzeugt, den Sturz vor der Erdoberfläche noch auffangen und sich unbeschadet wieder in der metaphysischen Bläue des Himmels verlieren zu können." Doch eine derartige Flugbahn erreicht die Figur Mach von Anfang an nicht. Schnell wird deutlich, daß er nur gemäß der grundsätzlichen Erzählthesen des Romans funktioniert, kein Eigenleben, keine Eigenart entwickelt. Denn Mach besitzt so etwas wie eine innere Stimme, die ihn leitet: "Er wußte, daß er andere durch seine Entscheidungen mitunter vor den Kopf stieß, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinem Gefühl zu gehorchen, wollte er sich nicht schaden. Jedenfalls konnte er genau zwischen Ängsten, Hoffnung, Wünschen und seiner inneren Stimme unterscheiden." Mach handelt dementsprechend bewußt unbewußt, oder umgekehrt, bleibt darin stets an seinen Erzähler gekettet. Tatsächlich ist es diese immer wieder besser wissende innere Stimme, die einen vor den Kopf stößt. Sie verschafft dem Roman keinerlei Erkenntnisgewinn - schließlich schreibt auch Freud dem Analytiker nicht unbedingt Wissen, sondern gleichschwebende Aufmerksamkeit als Notwendigkeit vor - und erstickt die Polyphonie des sonst Erzählten, beschränkt die buchstäbliche Aufmerksamkeit dieses Romans. Während Gerhard Roths Roman in seiner erzählerischen Wahrnehmungsarbeit, die frei von solcher Bewußtseinsorientierung sich bewegt, gelingt und seltene Momente einer Schwerelosigkeit, wie sie sonst etwa ein Segelflieger zu fühlen vermag, erzeugt, indem er sich tollkühn dem Spürsinn seiner Bilder, seiner Eindrücke, seiner einzelnen Augenblicke ausliefert, landet er angesichts dieser inneren Stimme immer wieder am Bauch. Und das ist traurig, denn so wird Der Strom nicht zu der großartigen Verdachtserzählung über all jene Bereiche des sogenannten optisch Unbewußten, die er leichterhand durch Streichung dieses einen, entscheidenden Erzählelements werden hätte können.


Rezension


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Personen: Roth, Gerhard

Roth, Gerhard:
¬Der¬ Strom / Gerhard Roth. - Frankfurt/M. : S. Fischer, 2002. - 352 S.
ISBN 978-3-10-066056-5

Zugangsnummer: 5775
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Rot - Buch