Ahnung von einem Zuhause / Anna Mitgutschs großer Roman Anna Mitgutsch ist eine selten erfolgreiche und eine mit seltener Inbrunst angefeindete Autorin. Ihre Wirkung erweist sich weniger an den Verkaufszahlen der sechs Romane, die sie seit 1986 veröffentlicht hat, als an der fast existentiellen Erschütterung, mit der diese Romane angenommen oder abgewehrt werden û Mitgutsch ist keine unverbindliche Schriftstellerin, sie schreibt, als gelte es das Leben, und sie nimmt die Heldinnen ihrer Bücher so ernst, daß sie sich nicht von ihnen entfernen will. Das erzürnt manche Leser, Männer vor allem, so viel Nähe wollten sie sich durch die Lektüre nicht einheimsen, alles hübsch auf Distanz gehalten, und wer sich, wie die Autorin, nicht daran hält, produziert »Gefühlskitsch« in einer Zeit, in der man dem vermeintlichen Bindungsdruck durch bindungslose Kunst zu entkommen trachtet. Mitgutschs Fürsprecher hingegen sind sich in den Romanen der österreichischen Erzählerin selbst auf der Spur, und da es in ihrem bisherigen Schaffen immer um Frauen ging, um deren »Züchtigung« und »Ausgrenzung« und Leben »in fremden Städten«, aber auch um Freundschaft und Liebe, hat sich im Literaturbetrieb das Fehlurteil eingenistet, da bestelle eine Autorin das Feld der sogenannten Frauenliteratur. Was alle Grenzen sprengt, wird flugs rubriziert, damit entschärft. Anna Mitgutsch schreibt über den Riß, der sich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auftut, zwischen Streben nach Glück und Zerbrechen an gesellschaftlichen Strukturen, die der Fürsorge und dem Mitleid abhold sind. Ihre Frauen finden sich zurückgestoßen in die Vereinzelung, es bleibt ihnen verwehrt, Gleichgesinnte zu treffen. Sie bringen auch nicht die Kraft auf, ihre Einsamkeit loszuwerden. Von daher, und nur von daher, verstehe ich die Ungeduld gegenüber den Heldinnen der Romane, ob sie nun Marie, Marta oder Lilian, Dvorah, Sonja oder Vera heißen: sie umgeben sich häufig mit den falschen Freunden, heiraten die falschen Männer, kommen nicht los von der eigenen, falschen Familie. Umso heftiger und gewagter, auch selbstzerstörerisch, sind dann die Ausbrüche, die sie unternehmen. Im neuen Roman "Haus der Kindheit", ist vieles anders. Erstens steht ein Mann im Mittelpunkt des Geschehens. Zweitens gesellt ihm die Autorin eine Reihe von Personen zu, die vom Rand des Geschehens unmerklich ins Zentrum rücken, so daß sich die individuelle Geschichte zum Panorama einer Gesellschaft weitet. Drittens läuft die Fabel nicht geradlinig auf ein tragisches Ende zu; auch wenn sich der Roman û dessen Arbeitstitel "Die Enteignung" lautete û als Chronik eines Scheiterns lesen läßt, widerspricht er nicht der Hoffnung, daß noch nicht alles entschieden ist. Viertens nimmt sich die Erzäh-lerin stark zurück û sie, und mit ihr die Autorin, scheint gelassener geworden zu sein, nicht mehr so unbedingt in ihrem Bestreben, die Sache der Bedrängten zu verfechten. Das »Haus der Kindheit« steht in H., einer österreichischen Kleinstadt. Max Berman hat es 1928, mit fünf Jahren, verlassen, zusammen mit seinen Eltern, die nach New York ausgewandert sind. Die zurückgebliebenen Großeltern fallen zehn, fünfzehn Jahre später dem Naziterror zum Opfer. Das Haus wird »arisiert« und auch nach der Befreiung den Erben nicht zurückgegeben. Im Herbst 1945, als Max als Corporal der US-Army zum ersten Mal in seine Geburtsstadt zurückkehrt, wird ihm der Zutritt zum Haus verwehrt. Bei seinem zweiten Aufenthalt, 1974, trifft er immer noch auf »diese Mischung aus Unterwürfigkeit und Überheblichkeit«, die es ihm unmöglich macht, sich der Stadt zugehörig zu empfinden. Immerhin gelingt es seinem Anwalt, die Rückstellung des Hauses zu erwirken. Aber H. bleibt ihm fremd; Max zweifelt nicht daran, daß er nach New York gehört, auch wenn ihn dort »die alte Sehnsucht nach Europa wieder heimsuchen würde«. Anfang der neunziger Jahre gibt er ihr nach û das Haus, das ihm gehört, steht nach dem Auszug der letzten Mieter leer, er will es nach seinen Vorstellungen einrichten, »jede Jahreszeit dort zumindest einmal noch erleben«, den Gerüchen, Stimmen, Schatten der Kindheitserinnerungen nachgeben. »Er war überzeugt, er kehre an den Ort zurück, an dem er sterben werde.« Aber nach einem langen Aufenthalt, bei dem er tatsächlich alle Jahreszeiten erlebt hat, fliegt Max zurück nach New York, »nach Hause«, wie er sagt. In H., in deren winziger jüdischer Gemeinde, hat er zwar Freunde gefunden und Bekanntschaften geschlossen. Aber sein größter Freund, der Remigrant Spitzer, ist gestorben, und Nadja, die einmal geliebte Fotografin, fällt in der Ukraine einem Verbrecher zum Opfer û nichts hält ihn mehr an diesem Ort, an dem alles in die Vergangenheit weist, die Vernichtung jüdischen Lebens, die sich nicht wegmachen läßt. Trotzdem ist der Roman mehr als nur eine notgedrungen elegische, auch bittere Darstellung der gescheiterten Annäherung an eine Gesellschaft, die mit der eigenen Geschichte schwer umzugehen versteht; Mitgutsch schreibt, parallel dazu, auch die Geschichte mehrerer Menschen in Max Bermans Umgebung, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Widersprüche den festen Willen haben, aufeinander zuzugehen. In ihnen ist, als Möglichkeit, die Kraft angelegt, sich über die Verhältnisse zu erheben. Das ist so tröstlich, daß man während des Lesens immer wieder tief atmet, wie in Augenblicken großen Glücks. Und man wird beinahe trunken von den ungemein dichten Orts- und Naturbeschreibungen, den Schilderungen des Alltags in New York und in amerikanischen Kleinstädten. Aber sogar die aus Gründen der Diskretion anonymisierte Stadt H. gewinnt allmählich Konturen, wird plastisch, gleichsam begehbar. Also doch ein Ort zum Leben, dieses Österreich, trotz all der vertrackten Biographien, die Max einmal zum halb verzweifelten Ausruf nötigen: »Gibt es denn keine glücklichen Menschen in diesem Land?« Im vergangenen Jahr hat Anna Mitgutsch im Rahmen der Grazer Poetikvorlesungen Überlegungen zum Thema »Erinnern und Erfinden« angestellt. Damals steckte sie noch mitten in der Arbeit an ihrem neuen Roman, und ein besonders lesenswerter Abschnitt ihrer Vorlesungen beschäftigte sich mit den verschiedenen Fassungen seines Anfangs. »Der Einstieg in eine konkrete Situation führt die wichtigsten Figuren ein und verweist innerhalb der konkreten Situation auf die Schlüsselbegriffe des Romans: Enteignung und Sehnsucht nach Behaustheit.« Tatsächlich ist es der Autorin gelungen, in der fortgesetzten Enteignung jüdischen Besitzes Spuren der Aneignung zu sichern, und in der Sehnsucht nach Behaustheit die Ahnung von einem Zuhause. *LuK* Erich Hackl
Rezension
Personen: Mitgutsch, Anna
Mitgutsch, Anna:
Haus der Kindheit : Roman / Anna Mitgutsch. - Frankfurt/M. : Luchterhand Literaturverl., 2000. - 336 S.
ISBN 978-3-630-87064-9 EUR 8.00
Historische Romane - Signatur: DG Mit - Buch