Mias Welt steht Kopf, als ihr Mann an einem Gehirntumor erkrankt - unkonventionelle Umsetzung eines komplexen Themas. (DR) Wird man nach dem Erleiden eines Gehirnschadens zu einer völlig anderen Person? Hat der Mensch eine Seele oder ist er bloß das Ergebnis chemischer Verbindungen? In seinem neuesten Roman geht der bislang mehr im Thrillerfach beheimatete dänische Autor Christian Jungersen solchen neurophilosophischen Fragen nach und erzählt, wie rasch unser fragiles System aus Molekülen kollabieren kann. Auf außergewöhnliche Weise verpackt er wissenschaftliche Fakten in eine fiktive Romanhandlung, die einen neuen Blick auf unsere Welt wirft, unser Verständnis des menschlichen Wesens reflektiert und ein den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft entsprechendes Bild vom Menschen zeichnet. Ganz aus der subjektiven Sicht der Ehefrau Mia beschreibt er das Schicksal eines hirngeschädigten Mannes und die schwerwiegenden Auswirkungen für Familie, Freunde und sich selbst. Während eines Familienurlaubs auf Mallorca erleidet der erfolgsverwöhnte Schulleiter Frederik einen Zusammenbruch, die Diagnose lautet Gehirntumor. Nach der erfolgreichen Operation empfindet Frederik keinerlei Empathie für andere, perseveriert andauernd und neigt zu zwanghaften Handlungen. Doch bald wird klar, dass das Ehe- und Familienleben der beiden bereits vor der Erkrankung des Mannes Brüche aufwies. Frederik hatte mehrfach Verhältnisse mit Kolleginnen, vernachlässigte die Familie zugunsten der Arbeit, Mia reagierte mit übermäßigem Alkoholkonsum. Allein die letzten drei Ehejahre waren glücklich, Frederik war wie ausgewechselt. Allerdings hat in dieser Zeit der Tumor bereits sein Wesen verändert. Als aufkommt, dass er mit riskanten Spekulationen die Schule immens verschuldet hat, werden Freunde zu Feinden, Beruf und Haus gehen verloren, ein Prozess droht, Sohn Niklas kapselt sich immer mehr ab. Nur in der Selbsthilfegruppe findet Mia Rückhalt, besonders beim verständnisvollen Anwalt Bernard. Er nimmt sich nicht nur der Causa ihres Mannes, sondern auch ihrer selbst an… Wenngleich "Du verschwindest" von dänischen Bibliotheken zum besten Roman des Jahres 2012 gekürt wurde und über ein Jahr auf der dänischen Bestsellerliste stand, begegne ich der Lektüre mit gemischten Gefühlen. Der fraglos genau recherchierte Stoff regt zum Nachdenken an, ist diskussionswürdig und wirft viele interessante Fragestellungen auf, dennoch wirkt das ganze Handlungsgebäude konstruiert, die Botschaften des Textes sind mir teils zu bemüht und manipulativ und insbesondere nehme ich dem männlichen Autor die ausschließlich weibliche Erzählperspektive schwer ab. Mias tiefes Selbstmitleid und ihr oft egoistisches Verhalten bleiben schwer nachvollziehbar. Insgesamt ist der sprachlich eher nüchterne, klug erzählte Roman über Krankheit, Identität und Liebe zwar lesenswert, allerdings stellt sich für mich die Frage, ob man zu dieser Thematik nicht lieber ein Sachbuch zur Hand nehmen sollte.
Personen: Jungersen, Christian
DR.G Junge
Jungersen, Christian:
Du verschwindest : Roman / Christian Jungersen. Aus dem Dän. von Ulrich Sonnenberg. - München : btb, 2014. - 474 S.
ISBN 978-3-442-75396-3 fest geb. : ca. € 20,60
Gesellschafts-, Liebes- und Eheromane - Buch