Kopf und Geist und Fleisch und Blut Franz Schuhs Antiroman Wenn mir jemand einreden möchte, dass sein Leben bedeutsamer ist als mein eigenes, spricht er gern vom Roman seines eigenen Lebens. Schon kann ich mich verstecken, damit kann ich nicht mithalten. Denn das setzt voraus, dass dieser Jemand einem Erlebnistaumel erlegen ist, von dem ich selbst allenfalls träumen kann. Das setzt übrigens einen sehr altertümlichen Romanbegriff voraus, einen, der voll auf Handlung mit unerwarteten Begebenheiten und eine Unzahl von Höhepunkten setzt. Wenn einem das eigene Leben zum Roman wird, so muss ich annehmen, ist es der Überlieferung wert, während das Leben der anderen, solcher Durchschnittstypen wie wir eben, ruhig dem gnädigen Vergessen anheimfallen darf. Das Leben als Roman, das setzt im klassischen Sinn voraus, dass eine Geschichte des Fortschritts zu erwarten ist. Aus einem tumben Toren wird ein strahlender Held, aus einem hinterwäldlerischen Buben ein Kosmopolit mit goldenem Händchen. Das Leben als einen Roman zu betrachten bedeutet, eine Biografie ins Adrette zu kostümieren, einem Durchschnittswesen Wagemut anzudichten und einem Zauderer Durchschlagskraft. Wenn jemand sein Leben als Roman sieht, sieht er nicht sein Leben, sondern Romane, an die er sein Leben anpasst. Das hat mit Franz Schuh natürlich überhaupt nichts zu tun. Dabei gibt sein Leben den Stoff für dieses Buch ab, sein Leben hat schon in früheren Veröffentlichungen Material herausgerückt und das eine oder andere Stichwort geliefert. Ein Roman will daraus nicht entstehen, reden wir lieber von einem Anti-Roman, das passt sowieso besser zu einem, der die Moderne nicht abgehakt hat als ein Phänomen, das für die Kulturgeschichte wohl einmal bedeutend gewesen sein mag, aber uns nichts mehr angeht. Und ob uns das etwas angeht, die Moderne und ihr Denken sind bei Schuh gut aufgehoben. Was heißt Moderne, die Tradition der großen Philosophen und die Literatur, immer wieder die Literatur, fließen in das Schreiben ein. So einer wie Schuh steht nicht für sich allein, andere stehen für ihn mit ein, und erst wenn sie alle zusammenstehen und miteinander ins Gespräch kommen, die Lebenden und die Toten, bekommen wir einen Eindruck von Franz Schuh, wie er Gedanken von anderen anzieht, um sie seinen eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen anzupassen. Das geht auch ganz in Ordnung so, denn den reinen Gedanken, den einer einmal gedacht hat und der von einem anderen übernommen wird, gibt es nicht. Das ist die Last und die Lust von jemandem, der sich mit Texten beschäftigt. Dass sich immer Unschärfe einschleicht. Was einer einmal gedacht hat und uns überliefern will, nehmen wir gerne auf und machen doch unser eigenes Ding draus. Schuh beschäftigt sich mit dem Philosophen Fichte, eignet sich dessen Gedanken seit seiner Jugend an und verändert ihn zwangsläufig. Es stehen doch Jahrhunderte dazwischen, die kann ein Gedanke, auch keine philosophische Idee, unverändert überstehen. Allein im Lauf der Jahrzehnte, da Fichte in Schuh wirkt und arbeitet, verändert sich das Bild des Denkers, ohne dass man sagen könnte, das frühere oder spätere Fichte-Bild sei grundfalsch. "…mir genügt mein Fichte, ein für allemal." Schluss, Punkt. Nun sind Texte dennoch etwas Handfestes, sie liegen gedruckt vor, sind jederzeit einsehbar, sind als Wort und Schrift unveränderbar. Nur, was macht unser eigener Geist draus? Es wird aber noch schlimmer. Das eigene Leben, je weiter wir zurückblicken, verflüchtigt sich. Kaum, dass etwas Festes, auf dem sich das Gebäude einer unverrückbaren Biografie stellen ließe. Je ferner das frühere Ich dem heutigen steht, desto verschwommener werden die Ansichten. Das ist das Glück und die Chance für einen Autor wie Franz Schuh, der es ohnehin nicht darauf anlegt, Wahrheiten für alle Zeit festzuschreiben. Er nimmt sich sein Leben vor, greift Episoden heraus, besieht sie bei Lichte, dreht und wendet sie, kommt ins Assoziieren, lässt sich verleiten zu Abschweifungen. Dafür findet er den schönen Begriff vom "Bewusstseinsflimmern". Auf einmal, wir befinden uns im Tiroler Gebirge, ein Grüppchen Soldaten soll mit Franz Schuh in den sechziger Jahren die Grenze zu Italien sichern, erzählt Schuh einem Kameraden den Mythos von Pallas Athene und Arachne. Er will dem unter Alkoholentzug Leidenden damit helfen, und dem ist das reichlich wurscht. Philosophie, Mythos, Literatur, Alltag, hier bildet alles eine Einheit. "Es herrscht eine Schlacht um einen Platz im Bewusstsein, ich muss mich für das Bewusstseinsflimmern konzentrieren, nicht um das Flimmern einzustellen, nicht um es zu beherrschen, sondern damit mir vom Flimmern nichts entgeht." Franz Schuh ist aber nicht nur der Mann aus Fleisch und Blut, er ist auch eine Fiktion, die Projektionsfläche eines anderen Lebens, eine Geburt aus dem Kopf des realen Franz Schuh, und schon deshalb kein reines Windei. Der Schlüsselbegriff dieser Lebens- und Denkfantasie lautet "ausgerechnet ich". Der junge Erzähler wundert sich einmal, "dass ich, ausgerechnet ich, am Leben war". Und alles was geschieht, widerfährt ausgerechnet diesem Ich. Ausgerechnet dieses Ich ist eine Kunstfigur, die auf formale Tricks angewiesen ist, um diesem herbeifantasierten und durchlebten Doppelcharakter gerecht zu werden. Das Ich ist ein vermitteltes, das sich einmal für einen Filmentwurf inszeniert oder einem Kamerateam auf einem Floß Rede und Antwort steht. Das Ich, so bekommen wir mit, ist ein Mann aus Papier und auf Zelluloid, ein Mann unter dem Eindruck von Lektüren ebenso wie ein Mensch mit Gefühlen, Sehnsüchten und Ängsten.
Personen: Schuh, Franz
DR.G Schuh
Schuh, Franz:
Sämtliche Leidenschaften / Franz Schuh. - 1. Aufl. - Wien : Zsolnay, 2014. - 222 S.
ISBN 978-3-552-05694-7 : ca. EUR 19,90
Gesellschafts-, Liebes- und Eheromane - Buch