Quelle: Pool Feuilleton; Zu den Urwörtern jeder Sprache gehört "Haus", das neben einem konkreten Gebäude auch der Inbegriff für Sprache oder Familienstruktur (Herrscher-Haus) sein kann. Bei Andreas Maier ist das Haus einer der frühesten Begriffe der Kindheit und in seiner individuellen Zeitgeschichte ist nach dem "Zimmer" das "Haus" der zweite Teil. Der Ich-Erzähler beamt sich in die Kindheit zurück, wenn er an das Haus denkt, und logischerweise heißen die beiden Kapitel drinnen und draußen. "Drinnen" ertastet der Ich-Erzähler die Welt, von draußen dringen nur erste Flashs ins Bewusstsein, ein Teich mit Enten, der Milchmann und die Urgroßmutter bleiben in Erinnerung. In der frühen Kindheit macht sich alles an Anekdoten fest, und der Erzähler relativiert seine Darstellung. "Vielleicht bin ich ganz anders aufgewachsen, als es die lieblichen Anekdoten erzählen." (24) Jedenfalls wird in dieser Zeit der sechziger Jahre ein neues Haus gebaut, bemerkenswert die Hingabe, mit der Fundamente gegossen und Garagen für die Dienstautos gebaut werden. Die echte Erinnerung setzt mit dem Kindergarten ein, aber der Kindergartenbesuch dauert nur kurz, weil sich der Erzähler weigert, dort hinzugehen. Dafür wird das Haus zur Welt erklärt, es gibt sichtbare Räume, in denen die Geschwister ihren Hobbies nachgehen, tabuisierte Sachen wie etwa den Heizungsraum und schließlich unsichtbare Dinge, wie etwa die Elektroleitungen, die man mit Steckdosen in Gestalt von Schweinsrüsseln anzapft. Im Kapitel "draußen" kommt das Kind tatsächlich aus dem Haus hinaus und muss in die Schule. Die ersten Sozialkontakte erweisen sich als schwierig bis skurril, zumal es bald einmal seltsame Rituale gibt, wie etwa das Formulieren erotischer Wünsche oder das Schwanzzeigen am Knabenklo. Ein Fahrrad erweitert schließlich den Weltkreis und das Haus wird mehr und mehr zu einem Stützpunkt, in den man ab und zu zum Auftanken zurückkehrt. Mittlerweile ist der Vater erkrankt und hat die Innensicht des Hauses übernommen. Andreas Maier erzählt gerade in der schlichten Unaufdringlichkeit ungemein aufregend, quasi mit jedem Satz entdeckt man mit Kinderaugen etwas Besonderes. Die Entdeckung des Alltags macht keinen Tag Pause, tatsächlich scheint die Kindheit die aufregendste Zeit des Lebens zu sein. In dieser subjektiven Entdeckungsgeschichte ist auch die Aufbruchsstimmung der goldenen Sechziger und frühen Siebziger Jahre enthalten. Wie immer bei Andreas Maier ist das Weltbild nicht eindeutig, sondern wird aus vielen Gerüchten, Tagesschattierungen und Wochenstimmungen zusammengetragen. - Doch letztlich ist die Welt generell hell, abenteuerlich und beschützend wie ein gutes Haus. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Maier, Andreas
Maier, Andreas:
¬Das¬ Haus : Roman / Andreas Maier. - 1. Aufl. - Berlin : Suhrkamp, 2011. - 164 S.
ISBN 978-3-518-42266-3
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Mai - Buch