Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Reinhard Ehgartner; Was ist ein Döbel? 'Ein Friedfisch, der eine halbe Räuberseele hat und manchmal die eigene Brut frisst. Furten bezeichnen Untiefen, an denen der Übertritt an ein anderes Ufer gelingen kann - Furten öffnen Räume, Furten bergen Gefahren. Wie in seinem letzten Roman 'Die Süße des Lebens spielt auch der neue Roman von Paulus Hochgatterer in Furth am See und wiederum bilden der Psychiater Raffael Horn und der Kommissar Ludwig Kovacs die zwei Brennpunkte dieser äußerst fein und komplex gearbeiteten literarischen Ellipse. Im Vordergrund von Hochgatterers Erzählen stehen der Alltag von Klinik, Schule, Polizei sowie das Privatleben von Kovacs und Horn. Im Hintergrund stehen ein tödlicher Unfall, der auch ein Verbrechen darstellen könnte, und das titelgebende Matratzenhaus - ein Ort des sexuellen Missbrauchs von Kindern, an dem wir zwei Mädchen indischer Herkunft begegnen. Auch in diesem Roman verzichtet Hochgatterer auf eine Erzählerinstanz, die uns die Dinge darlegen und erläutern würde - aus verschiedenen Ich-Perspektiven und bedingungslos subjektiv erhalten wir Wirklichkeitsausschnitte, die kapitelweise aneinandergereiht die LeserInnen zum Zusammensetzen der Puzzleteile und somit zu hoher Wachsamkeit zwingen. Es ist die hohe Kunst von Hochgatterer, sein Thema der Gewalt an Kindern leitmotivisch in unterschiedlichsten Tonarten und Tonlagen durchzumodulieren: Die Grundantriebe rund um Aggression und Autoaggression finden sich in allen Figuren wieder, die Muster ihres Auslebens bzw. ihrer Bewältigung zeigen sich jedoch in einer Vielfalt, wie sie nur ein guter Psychiater und hervorragender Autor darzustellen vermag. Ein herausfordernder Roman, der erschreckende Perspektiven öffnet, hinter den Mustern des Verletzens und Selbstverletzens aber in verschiedenen Figuren den Traum von einer verständnisvollen und zärtlichen Welt am Leben hält. ---- Quelle: LHW.Lesen.Hören.Wissen (http://www.provinz.bz.it/kulturabteilung/bibliotheken/320.asp) Autor: Dr. Michael Patreider; Der neue Roman des österreichischen Psychologen spielt erneut im fiktiven österreichischen Furth am See und wir finden wie "In die Süße des Lebens" auch die beiden Hauptprotagonisten, den Psychiater Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs wieder, ob dies aber nun ein Krimi ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Nicht die Hauptfiguren sind nämlich auf Spurensuche zur Aufklärung mehrerer rätselhafter Fälle von Kindesmisshandlungen, sondern der Leser selbst. Dies ist auch der wohl schwierigste Teil beim Lesen, da man selbst das Gesamtbild zusammenstellen muss und vom Autor immer wieder darauf gestoßen wird, dass das Naheliegende durch die Beschränkung des eigenen Blicks und das Nicht- Wahrhabenwollen des Tatsächlichen immer wieder aus dem Zentrum der Betrachtung rückt. Hochgatter hinterlässt durch diesen Kriminalroman einen schalen Geschmack im Mund, da man hilflos zusehen muss, dass es für scheinbar alltägliche Probleme keine Lösungen gibt. Er beschreibt distanziert, fast klinisch abstrakt und schafft so eine enorme Intensität, die den Leser aufgrund der beschriebenen Tatsachen perplex und ratlos zurücklässt. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Peter Landerl; Mehr als ein Krimi? Paulus Hochgatterers Roman "Das Matratzenhaus" Die Lektüre von Paulus Hochgatterers neuem Buch "Das Matratzenhaus" war schmerzhaft. Schmerzhaft ob des Sujets, es geht unter anderem um Kindesmissbrauch - und ich wurde während der Lektüre Vater. Kein Wunder, dass ich mich gegen das Buch sperrte, ich legte "Das Matratzenhaus" beiseite und musste es trotzdem wieder zur Hand nehmen. Ich rang mit dem Buch, es hat den Kampf gewonnen. Das ist natürlich als Lob zu verstehen. Ein Teil des Figureninventars ist Hochgatterer-Kennern aus dem 2006 erschienenen Krimi "Die Süße des Lebens" bekannt. Da ist zum ersten der Psychiater Raffael Horn, ein Gartenfreund und Volvo-Fahrer, der auf seine Ehefrau eifersüchtig ist und mit seinem halbwüchsigen Sohn Tobias nicht zurechtkommt. "Er geht mir auf die Nerven, dachte er, und ich möchte nichts von ihm wissen, nichts von Französisch oder Latein oder Physik. Ich frage ihn absichtlich nicht, und ich weiß, dass das schlecht ist." Kein Wunder, dass der Sechzehnjährige später mit Papas Volvo abhauen wird. Die zweite Hauptfigur ist Kommissar Kovacs, der die typischen Grobheiten eines Kriminalers aufweist, doch: raue Schale, weicher Kern. Beim Fischen und Sterneschauen kommt er zur Ruhe. "Auf den Himmel ist Verlass, dachte er, alles steht zur rechten Zeit am rechten Ort." Die weiteren Hauptfiguren: Ein verhaltensorigineller Benediktinermönch, der ständig an seinem i-pod hängt und sich lieber der Verehrung Bob Dylans widmet als seines dreifaltigen Gottes. Mehr oder weniger offiziell liiert ist er mit Stella, einer engagierten Volksschullehrerin, die ebenfalls zu psychischer Labilität neigt und sich in schwachen Momenten mit Rasierklingen Wunden zufügt. Die ganz normale Abnormalität, die so typisch ist für Hochgatterers Werk. Der Frühling zieht ein in Furth am See, Ostern steht vor der Tür. Der Mönch sagt: "Irgendwie ist der Frühling ein Betrüger, er gibt einem das Gefühl, dass alles gut ausgeht." Nichts geht gut aus: Ein junger Maurergeselle stürzt von einem Gerüst sechzehn Meter in die Tiefe. Mord? Eine Passantin will eine Person neben ihm gesehen haben, deshalb ermittelt Kommissar Kovacs. Kurze Zeit später werden drei Kinder von einer, wie sie sie nennen, schwarzen Glocke geschlagen, verweigern darüber hinaus aber jede nähere Angabe zu dem Täter. Kovacs wird Druck von oben gemacht, auch deshalb beschäftigt er sich mit diesem Kinderkram äußerst ungern. "Wer schlug Kinder? Alle. Reihum und täglich. Vielleicht nicht genau so, wie man ihn seinerzeit geschlagen hatte, mit Hosenriemen und Weidenrute, aber man tat es immer noch. " Horn wird den Ermittlungen beigezogen, man erwartet von ihm Einfühlungsvermögen und psychologisches Know-how. Doch auch er bringt kaum etwas aus den Kindern heraus. Am Ende klärt sich - ohne dass Kovacs und Horn groß etwas dazu beigetragen hätten - die Identität der schwarzen Glocke. Gleichzeitig fliegt ein Kinderpornoring auf. Kovacs resümiert: "Weißt du, was das Schlimmste ist?, sagte er, dass man keine Ahnung hat. Von nichts. Und dann sitzt du da und fragst dich, wann du begonnen hast, die Dinge zu übersehen. Am Ende merkst du, dass du von Anfang an nicht dabei warst. Dann baust du dir eine Geschichte, irgendeine, und versuchst dir vorzustellen, wie es gewesen sein muss." Hochgatterers Erzählprinzip ist die Mehrdimensionalität, vier Sichtweisen auf das Geschehen bietet er dem Leser an. Die Perspektiven von Kovacs und Horn werden im Präteritum wiedergegeben, die der Lehrerin Stella und die des Mädchens Fanny, eines Missbrauchsopfers, im Präsens, was die Unmittelbarkeit ihres Erzählens erhöht. Vor allem Fannys Schilderungen, aus kindlich-naiver Ich-Perspektive, sind eindringlich und quälend. "Das Matratzenhaus" ist klug gebaut, raffiniert erzählt, stilistisch tadellos. Mit dem Paar Kovacs und Horn ist ein Gespann geschaffen, das problemlos durch weitere Krimis tragen könnte. Setzt Hochgatterer seine Krimi-Serie fort (was er bereits angekündigt hat), so wird er weitere sichere Siege beim Publikum einfahren - was aber kann er dabei als Autor gewinnen? In den (großteils lobenden) Rezensionen war zu lesen, "Das Matratzenhaus" sei "ein literarischer Krimi", "mehr als ein Krimi" oder "nicht nur ein Krimi". Was will das heißen? Dass Hochgatterer einen Krimi für Intellektuelle geschrieben hat? Oder Entschuldigung und Rechtfertigung dafür, dass sich ein Schriftsteller in die Niederungen des Krimis begeben, aber jedenfalls ein Stück Literatur produziert hat? Dass anerkannte Schriftsteller spannende und anspruchsvolle Krimis schreiben können, weiß man spätestens seit Dürrenmatt. Dafür muss man sich nicht schämen. Doch eines - jetzt wird es polemisch: Die allseits grassierende Krimi-Mode trägt hysterische Züge, die an den Zustand der Weltwirtschaft im Sommer 2008 erinnern, vor der großen Krise. Jede Stadt hat ihren, jeder Landstrich seinen Krimi. Die zahllosen Ermittler, die zahllosen Opfer, wohin mit ihnen? Die Wiederholung hat den Krimi fest im Griff - so viele Gründe, einen Mord zu begehen, gibt es nun einmal nicht. Ein Krimi, so ein häufig zu hörendes Argument, kann dem Roman ebenbürtig sein, transportiert er doch auch ernste Themen. Ja sicher, aber - die Gegenfrage sei erlaubt - warum dann nicht gleich einen Roman schreiben, ohne den kriminaltechnischen Firlefanz? Ein Krimi steckt in einem Korsett: Die Ermittlungsarbeit muss möglichst realistisch geschildert werden, es gibt für die Ermittler Wege zu machen, Personen zu befragen, eine Menge an Alltagsgeschwätz zu bewältigen, lange Dialoge zu führen, die sich nur darum drehen, was wer wann wo gesehen oder getan hat, das heißt, der Autor muss eine Summe an dramaturgischen Leerläufen bewältigen, um das Werkel Krimi am Laufen und den Leser bei Laune zu halten. Natürlich gibt es diese Passagen auch im "Matratzenhaus". Hochgatterer hat sie dem Genre gemäß recht gut gemeistert, keine Frage, trotzdem hätte ich sie lieber nicht gelesen. "Das Matratzenhaus" ist ein guter Krimi, nicht mehr, nicht weniger. Ein Krimi eröffnet einem Autor Möglichkeiten, legt ihm aber auch Fesseln an. Dies sollte Paulus Hochgatterer bewusst sein. Eigentlich wäre er zu Höherem berufen. ---- Quelle: Pool Feuilleton; An der österreichischen Seele beißt sich letztlich jeder Schriftsteller die Zähne aus, am ehesten gelingt es noch der Psychiatrie, dieses weite Land (Schnitzler) halbwegs in den Griff zu bekommen. Paulus Hochgatterer lässt im Matratzenhaus einen Kinderpsychiater aufmarschieren, um diesem psychischen Lurch in den Seelen der Menschen so etwas wie fachliche Wortlosigkeit entgegenzusetzen. Begleitet wird der Psychiater von einem Kripo-Beamten ländlichen Zuschnitts, als Gegenposition zur amtlichen Recherche treten eine Volksschullehrerin und ein aus Indien adoptiertes Mädchen auf. Scheinbar läuft das Leben unter der sonnigen Glasur einer Happy-peppy-Gesellschaft ab, die Stimmung ist voller guter Laune und alle Wortmeldungen sind spritzig vage wie eine Ö-drei-Moderation. Aber wenn man genauer hinschaut, tut sich fast stündlich Ungeheures, ein paar Kinder werden der Reihe nach geschlagen, der Religionslehrer hat ein inniges Leib-Verhältnis mit der Volksschullehrerin, der pubertierende Sohn des Psychiaters ist vielleicht ins Drogenmilieu abgetaucht, ein Unternehmer schwimmt wie ein Wahnsinniger durch den See, jemand schneidet sich die Pulsadern auf, ein anderer springt mit dem Seil um den Hals vom Gerüst. Bei keiner dieser Tätigkeiten lässt sich abschätzen, ob sie von Normalen oder Wahnsinnigen ausgeführt wird. Irgendwo in der Mitte dieses sozialen Provinzlebens steht das sogenannte Matratzenhaus, in dem Matratzen verschiedenster Konsistenz aufgebahrt sind. Kann sein, dass darin geschändet wird, vielleicht werden auch nur Pornos gedreht oder das Matratzenhaus ist ein sinnliches Relikt aus einem ehemaligen Matratzenlager. Während man als Leser von den Psychen der Figuren in die Tiefe des eigenen Bewusstseins gerissen wird, lösen sich manche Verknüpfungen harmlos auf, manche lassen einen verzweifelten Patienten zurück, manche einen uneinsichtigen Täter. Und das amtliche Auge Österreichs wacht in Gestalt von Kripo- und Psycho-Beamten über das Treiben seiner Bewohner. Am Rande der Erkenntnisse angelangt fasst der Kripo-Mensch die Lage bei einem Bier zusammen. "Weißt du was das schlimmste ist?" sagte er, "dass man keine Ahnung hat. Von nichts. Und dann sitzt du da und fragst dich, wann du begonnen hast, diese Dinge zu übersehen. Am Ende merkst du, dass du von Anfang an nicht dabei warst. Dann baust du dir eine Geschichte, irgendeine, und versuchst dir vorzustellen, wie es gewesen sein muss." (293) Genauer lässt sich die österreichische Seele momentan auf dieser Welt nicht beschreiben. Paulus Hochgatterers Matratzenhaus ist eine atemberaubende Geschichte voller unauffälliger Typen, vor denen wir uns letztlich fürchten, weil wir es selber sind, tierisch bodenlos und ohne jeglichen moralischen Intellekt. Helmut Schönauer
Rezension
Personen: Hochgatterer, Paulus
Hochgatterer, Paulus:
¬Das¬ Matratzenhaus : Roman / Paulus Hochgatterer. - Wien : Deuticke, 2010. - 293 S.
ISBN 978-3-552-06112-5
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Hoc - Buch