Hochgatterer, Paulus
Die Süße des Lebens Roman
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Reinhard Ehgartner; Eine dunkle literarische Panoramakarte österreichischer Seelenlandschaft. (DR) Am Eingang des Romans steht der grausame Mord an einem alten Mann. Die siebenjährige Katharina, die den verunstalteten Toten findet, verstummt für lange Zeit, Verdachtsmomente gegen verschiedene Personen erhärten und verlieren sich wieder, gegen Ende erhöhen geschickte Aussparungen die Spannung und am Schluss kennen wir Motiv, Tathergang und Täter. Hochgatterers neuer Roman 'Die Süße des Lebens funktioniert auf der Ebene des Krimis und des Thrillers. Diese vom Autor sehr souverän eingesetzten gattungsspezifischen Stilmittel sind es aber nicht, die die Qualität und Faszination dieses Romans ausmachen. Wie schon bei früheren Romanen des Autors ist der Einstieg kein leichter und zu fordernd, um als Entspannungslektüre vor dem Einschlafen zu dienen. Hat man sich in der vom Autor ausgelegten Seelenlandschaft aber einmal orientiert, erkennt man eine Präzision und literarische Detailgenauigkeit, die ein sich ständig verdichtendes Lebens- und Verweisnetz weben und einen so schnell nicht wieder loslassen. Vieles konnte ich erst bei der zweiten Lektüre wahrnehmen, vieles ist mir vermutlich noch verborgen. "Das Leben wird sicherer, wenn du mitzählst", sagt der junge Björn gegen Ende des Romans. Das Mitzählen lohnt sich auch bei diesem Buch. In Kapitel 'Null ist es noch die Perspektive eines auktorialen Erzählers. Von da an werden wir in exakt wechselnder Kapitelabfolge aus den Perspektiven von vier zentralen Figuren durch die Handlung geführt. Da ist zum einen ein am psychischen Abgrund tänzelnder Benediktinermönch und Mathematiklehrer, der seine Lebensgrundlage aus der Regel des Heiligen Benedikt, Bob Dylan, seinem MP3-Player und exzessiven Langstreckenläufen bezieht. Dann ist da der junge wohlstandsverwahrloste Björn, der im Auftrag seines großen Bruders Grausamkeiten an Tieren begeht und sein irdisches Dasein auf der Folie von 'Star Wars auf der dunklen Seite der Macht eingerichtet hat. Diesen weitgehend fremdgesteuerten Personen stehen auf der anderen Seite mit dem Psychiater Raffael Horn und dem Kriminalpolizisten Ludwig Kovacs zwei Lebens- und Gesellschaftsanalytiker gegenüber, die aus einer Mischung von persönlicher Betroffenheit und ironischer Distanz in die dunklen Zonen menschlicher Seelen und gesellschaftlicher Zustände hineinleuchten. In der Welt dieser beiden etwa 50-Jährigen fühlt sich der Autor sichtlich zu Hause und in der Beschreibung des Klinikalltags mit seinen tragischen und komisch-absurden Seiten schöpft der Kinderpsychiater Hochgatterer aus dem Vollen. Es sind ausschließlich männliche Perspektiven, aus denen diese literarische Welt zusammengebaut wird. Wie bereits das Cover signalisiert, ist die Wirklichkeit eine fragmentierte, oben und unten können jederzeit kippen. Im Wechsel der Standpunkte wird deutlich und spürbar, dass keine allgemein gültige Perspektive auf die Welt mehr eingenommen werden kann. In sich funktionieren die Welten nach ihren eigenen schlüssigen Gesetzen. Jeder ist sein eigener Kosmos. Nicht erst am Ende wird deutlich, dass sich Täter und Opfer kaum mehr unterscheiden lassen und dass unsere Versuche, einen tieferen Zusammenhang aus dem Geschehen zu ziehen, ein hilfloses Unterfangen sind. Oder wie es Horn sagt: "Die Dinge hängen nicht zusammen. Der Zufall schafft Bedeutung." Dass der Roman dabei nicht gänzlich positionslos und richtungslos wird, organisiert Hochgatterer hintergründig in der Verteilung von Aufmerksamkeit und Sympathie. Zahlreiche wie nebenbei erwähnte Beschreibungsdetails ordnen sich im weiteren Verlauf des Textes zu dichten Mustern. So wächst etwa ein scheinbar bedeutungsloser weißer Fleck auf einer Fotografie an späterer Stelle zur beängstigenden Metapher für Vernichtung und Auslöschung. Diese Genauigkeit in der Ausgestaltung von Neben- und Begleitgeschichten ermöglicht es Hochgatterer, eine Reihe von Themen im Hintergrund mitlaufen zu lassen. Da ist etwa das Motiv von der gescheiterten Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die bei jeder Personengruppe eine andere Ausgestaltung findet und dennoch als durchkomponierter Subtext fungiert. Ein bemerkenswerter Roman, beunruhigend und gut. Diese Vielzahl an Lesespuren, die dieser Text bietet, macht das Buch auch zu einer anspruchsvollen Herausforderung für Literaturgesprächskreise und literarische Diskussionen. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Helmut Gollner; Nichts Spannenderes als der Mensch Paulus Hochgatterer legt einen "Thriller" vor: Die Süße des Lebens Vielleicht ist es gut, vorneweg über die Erwartungen zu sprechen, die die Ankündigung eines neuen Romans von Paulus Hochgatterer auslösen: Hochgatterer ist in der österreichischen Gegenwartliteratur sicher der Schriftsteller, der am programmatischsten und radikalsten die allwissende Position des auktorialen Erzählers verweigert, mindestens versteckt (ich beziehe mich auf die letzten Erzählungen/Romane Wildwasser, 1997, Caretta, Caretta, 1999, Über Raben, 2002, und Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, 2003): In teilweise äußerst mühsamer Kleinarbeit säubert Hochgatterer nach eigenem Zeugnis seine Prosa von allen Elementen des Kommentars, der Erklärung, der Zusammenhänge. Das Herzzerreißende der Dinge, die kreatürliche Ausgesetztheit des Menschen ist am sichtbarsten, bevor sich der Arzt mit Diagnose und Therapie daran macht, den Fall per Kategorisierung und Heilung hinter sich (hinter uns) zu bringen. Hochgatterer befreit seine Texte vom ganzen Apparat des Verstehens, der die Leiden und Wunden des Menschen in medizinischen, psychologischen, soziologischen oder ideologischen Kategorien aufgreift und in deren Fachsprache ablegt. Verstehen beschwichtigt. Der Autor vergegenwärtigt die Leiden in dem Status, in dem sie Leiden sind: begrifflos. Hochgatterer ist Jugendpsychiater. In einem Interview sagte er sinngemäß, dass er jeden neuen Patienten zunächst in seiner ganzen Neuheit, also außerhalb seines Fachwissens, aufzunehmen versuche, um den Kategorien und Rubriken des Bescheidwissens zu entkommen, die die Sicht auf die Verhältnisse durchaus verstellen können. Man kann diese schöne ärztliche Tugend auch als schöne poetische Tugend nehmen: dem Leser Zugang zum Menschen verschaffen, der nicht in den Fußstapfen des Autors oder einer anderen besserwisserischen Instanz erfolgt. Phänomene bleiben neu nur ohne Erklärung. Erklärungen sind immer alt, insofern sie das Phänomen in einer endlichen Menge von Erklärungssystemen aufheben. Und die Erschaffung seiner Neuheit, mag das Phänomen in unserem Wissen noch so alt sein, ist schließlich Rechtfertigung, Vermögen und Sieg der poetischen Literatur. Hochgatterers Menschen sind meist Jugendliche in den aberwitzigen Verhaltensverrenkungen, die ihnen von einer Psyche aufgenötigt werden, welche den Überlebenskampf um vorenthaltene Liebe (Glück) in allen Formen und in aller Unbedingtheit führt, also Fälle für den Psychiater. Aber sie sind aus solcher Nähe beschrieben (oft in Ich-Form), dass die Überlegenheit des Psychiaters ausgeblendet und nutzlos bleibt. Gerade dadurch, dass diesen phänomenologischen Porträts in der Beschreibung der (harten, rauen) Oberfläche Erklärungen und Zusammenhänge entzogen bleiben, beginnt das Weiche, Zarte unter der Oberfläche wie von selbst zu beben (statt vom Autor wörtlich klargemacht zu werden). Eine Poetik der Barmherzigkeit ist das, insofern die Wirklichkeit des Leidens eben deswegen im ganzen Ausmaß erlebbar wird, weil sie völlig freigehalten wird von Reflexion, vom Krankheits- oder gar vom Moralbegriff, die die Fakten durch Einordnung in ein Orientierungssystem nur ruhigstellen würden. Hochgatterer ist Moralist durch Moralverweigerung. Man bekommt den Eindruck, dass solche Porträts alles enthalten, was Wirklichkeit zu vergeben hat; man muss sich also nicht begnügen mit dem Bisschen, das jemand (der Autor) zur Wirklichkeit zu sagen hat. Gezielt und hartnäckig setzt Hochgatterer Sprache ein, um etwas mitzuteilen, das sie nicht benennt. Diese Einleitung zielt trotz ihrer Länge und Allgemeinheit auf Hochgatterers neuen Roman Die Süße des Lebens, insoferne sie auch dessen Hauptqualitäten beschreibt. Es gibt allerdings auch erhebliche Unterschiede zu seinen letzten Büchern. Erstens bietet sich der Roman dem Leser als Kriminalroman an: Es gibt den Mord am Anfang, die Recherchetätigkeit des Kriminalkommissars und am Schluss den Täter. Zweitens nimmt sich Hochgatterer mehr Raum als sonst für auktoriales Erzählen, also für den Draufblick auf Weltausschnitte und ihre Zusammenhänge. In einer österreichischen Kleinstadt (Furth) wird einem alten Mann der Kopf zu Brei geschlagen, werden einem Kind vorsätzlich die Beine so zugerichtet, dass sie amputiert werden müssen, Katzen, Hunde, Enten werden von Unbekannten reihenweise umgebracht. Beruflich beschäftigt damit sind ein Kommissar (Ludwig Kovacs) und ein Psychiater (Dr. Horn). In alternierenden Kapiteln "besucht" der Erzähler außer Kovacs und Dr. Horn noch den Jugendlichen Björn, der von seinem psychopathischen und kriminellen Bruder Daniel in einer "Star Wars"-Welt gefangengehalten wird, und zwar als Auftragsempfänger des "Imperators"; und den Ordensgeistlichen und Mathematiklehrer Joseph Bauer, der unter der ständigen Empfindung lebt auseinanderzubrechen und glaubt, dass Bob Dylan der Erlöser ist. Björn und Bauer rückt der Autor auf die beschriebene Weise so zentimeternahe an den Leib, dass wir in ihren geschlossenen Welten ausgesetzt werden, ohne das Instrumentarium mitzubekommen, uns diese Welten als "kranke" auf Distanz zu halten. So ist es wohl immer bei Hochgatterer: Das sogenannte psychopathische Verhalten hat alles zu tun mit dem sogenannten gesunden; der Überlebenskampf dort ist Modellkampf für hier. Die Björn-Kapitel sind in Ich-Form geschrieben, die Bauer-Kapitel in ich-naher Er-Form. Für die "normalen" Welten des Kommissars und des Psychiaters nimmt der Autor auktoriale Erzählhaltung ein. Hier gibt es eine Welt mit den üblichen Zusammenhängen, mit Frau und Kind, mit Freundin, Beziehungsproblemen, Berufsalltag, mit Unzulänglichkeiten und Erinnerungen; äußerst einfühlsam und umsichtig erzählt. Wir werden integriert, nicht ausgesetzt. Kovacs und Dr. Horn sind einander ein bisschen ähnlich: eher melancholisch, mit Hang zur Misanthropie, streunend betrachtsam, undepressiv/unaggressiv zweiflerisch. Ihre Berufe völlig unheroisch. Die Geschichte wird in die Breite ihrer Figuren erzählt (in der Praxis des Dr. Horn lernen wir noch eine Reihe anderer Lokalfälle kennen), in hoher Authentizität zu einer Art psychogrammatischen Panoramas einer österreichischen Kleinstadt. Der Vorwärtsdrang der Kriminalhandlung wird hintangestellt. Wenn man das Buch als Kriminalroman liest, spießt sich's allerdings ein bisschen. Die kriminalistische Aufklärung des Mords an dem alten Mann wird zwar nur beiläufig, aber doch beharrlich betrieben. Das Buch endet krimikonform mit der Entlarvung des Täters. Diesem Genre-Muster bzw. den Erwartungen, die es erweckt, entkommt der Leser nicht leicht. Die eindrucksvolle Menschendarstellung Hochgatterers verträgt die zusätzliche kriminalistische Ausrichtung nicht immer gut. Es schmerzt ein wenig, wenn die hochauthentisch porträtierten Figuren Björn, Daniel, Bauer innerhalb des Krimi-Gefüges in Verdacht geraten, zur strategischen Irreführung des Lesers bei seiner Suche nach dem Täter eingesetzt worden zu sein. Sowas kann man mit Genre-Typen machen, mit Menschen (zu denen sie in Hochgatterers Hand geworden sind) nicht. - Krimifreunde werden sich auch nicht freuen, wenn der Täter eine Nebenfigur ist, auf die die verdeckten Fluchtlinien des Romans keineswegs zuliefen. Oder wenn im Grunde weder die psychiatrischen noch die kriminalistischen Recherchen entscheidend zur Aufklärung des Falls beigetragen haben. Die wenig befriedigende Fallaufklärung löst irgendwann die Frage aus, wieso es für Hochgatterers Menschenanliegen überhaupt eine Kriminalhandlung brauchte. Hochgatterers Poetologie geht ja nicht einfach auf die Bewältigung der Wirklichkeit aus, sondern viel eher auf die Offenlegung ihres erbarmungswürdigen Rohzustands. Das kann natürlich auch ein Krimi leisten, und das tun viele sozialbewusste Krimis, in denen die Auffindung des Täters mitnichten die Welt in Ordnung bringt. Aber auch zur Ungelöstheit des Ganzen hat die Lösung des Falls in Hochgatterers Roman keine rechte Beziehung. Am Cover wird der Roman als Thriller bezeichnet. Ob man ihn nun als solchen liest oder nicht: Es gibt sowieso nichts Spannenderes als den Menschen, wenn Hochgatterer am Werk ist. Die kleine Katharina hat die Leiche ihres Großvaters entdeckt und von diesem Augenblick an aufgehört zu sprechen. Viel aufregender als der Kriminalfall ist die Beobachtung ihres Verhaltens in den Sitzungen bei Dr. Horn. Obwohl Hochgatterer einen Psychiater und einen Kriminalisten in Diensten hat, sitzt er seinen Figuren, hat man den Eindruck, in einer dem Leser und den Figuren wohltuenden Art von Hilflosigkeit gegenüber, angewiesen darauf, sie unter eingehender Beobachtung unbehelligt zu lassen.


Rezension


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Personen: Hochgatterer, Paulus

Schlagwörter: Thriller Krimi Gesellschaftsanalyse Österreichische Literatur

Hochgatterer, Paulus:
¬Die¬ Süße des Lebens : Roman / Paulus Hochgatterer. - Wien : Deuticke, 2006. - 293 S.
ISBN 978-3-552-06027-2

Zugangsnummer: 1652
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Hoc - Buch