Haas, Wolf
Verteidigung der Missionarsstellung Roman
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Fritz Popp; Wolf Haas verteidigt Scherz, Satire, Ironie und möglicherweise tiefere Bedeutung. (DR) Gleich vorweg: Um eine Anleitung für zu bevorzugende Sexualpraktiken geht es nicht. Besonders kämpferisch sind weder die Hauptperson Benjamin Lee Baumgartner, ein bayrischer Indianer, der häufig mit dem Darsteller in "Einer flog über´s Kuckucksnest" verglichen wird, noch der Autor, der sich selbst auch ins Buch reinschmuggelt. Das Ganze ist eine Art großer Sprachscherz, bekannt ironisch und in haasischer Sprachmanier vorgeführt, diesmal allerdings auch noch typografisch unterlegt durch Elemente visueller konkreter Poesie. Da kommt es schon vor, dass Zeilen quer über die Seite wandern, Seiten aus einem Wort bestehen, passagenweise Kleingedrucktes auftaucht oder gar manches dem Lesenden Chinesisch vorkommen muss, weil eben Dialogteile in selbiger Schriftform unübersetzt wiedergegeben werden. Aber auch mit B.L. Baumgartner treibt die Geschichte ihre Scherze. So verliebt er sich immer zu Zeiten von diversen Seuchen, sprich: Rinderwahn, Vogelgrippe, EHEC. Und kämpft mit der Diskrepanz von Schüchternheit und sprachlichen Höhenflügen in Form innerer Monologe. Und mit seiner ungeklärten Herkunft, sprich: väterlicherseits. Und der Autor Wolf Haas hat seinen Spaß bei der Geschichte, weil er vorführt, dass nicht alles so ist, wie es beim ersten Lesen erscheint oder wie die Protagonisten es zu wissen meinen. Produktiv setzt er die Wiederholung als Mittel der Dekonstruktion ein, lässt teilhaben an schrägen Gedankengängen und insistierenden Gedanken und Vorstellungen. Entstanden ist so ein höchst vergnüglicher linguistischer Roadmovie, wobei nicht sicher ist, wo er hinführt oder hinführen sollte. Zusätzlich gibt es jede Menge Seitenhiebe, etwa auf österreichische Zustände aller Art. - Für Brenner-Fans, Interessierte an intelligent-vergnüglicher Literatur und ebensolchen Sprachspielchen. ---- Quelle: LHW.Lesen.Hören.Wissen (http://www.provinz.bz.it/kulturabteilung/bibliotheken/320.asp) Autor: Markus Fritz; Vorweg: das ist kein Buch über Sex, sondern die Vorgeschichte wird exzessiv beschrieben, der Status des Verliebtseins. Die Hauptfigur Benjamin Lee Baumgartner verliebt sich immer dann, wenn gerade eine Seuche ausbricht: in London, bei der Rinderseuche BSE, in China beim Ausbruch der Vogelgrippe und in New Mexico beim Ausbruch der Schweinepest. Das ist irgendwie ein komischer Zufall. Immerhin droht bei der Rinderseuche die Auflösung des Gehirns und die Symptome sind bei Verliebten ja auch ganz ähnlich. Verliebte benehmen sich doch auch seltsam, manchmal machen sie sich fast lächerlich, aber selber merken sie es gar nicht, aber die Umwelt nimmt die Veränderungen wohl wahr. Unterbrochen wird die Handlung durch kluge Ausführungen einer Figur, die Wolf Haas heißt, über das Schreiben, die Sprache und die Konstruktion der Wirklichkeit durch die Sprache. Ein amüsantes Buch über die Liebe und die Sprache. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Daniela Strigl; Ich dachte nämlich früher, die Missionarsstellung müsse wegen des illustren Namens etwas ganz Besonderes sein", sagt der Held dieses Romans, Benjamin Lee Baumgartner, angeblich Sohn eines Indianers und einer Deutschen, zu seiner holländischen Übersetzerkollegin. "Verteidigung der Missionarsstellung" ist natürlich kein Buch über Sex, oder nur sehr am Rande. Vielmehr geht es, wie das Zitat verrät, um die Sprache. Also jedenfalls mehr um den Eros der Sprache als um die Sprache des Eros. Wenn Baumgartner über die sprachschöpferische Impotenz des Normalen nachdenkt und die Übersetzerin, um ein Gegenbeispiel bemüht, die "einfache Innigkeit der Missionarsstellung" gegen die "spießige Vorstellung der Optimierung" verteidigt, dann sollte man daraus keine poetologischen Rückschlüsse ziehen: Dieser Roman ist von einfacher Innigkeit so weit entfernt wie sein Held vom Genpool der Hopi-Indianer. Wolf Haas hat hier ein bis ins Kleinste durchdachtes Spiel aufgezogen, dessen Raffinement gerade darin besteht, daß der jeweils nächste Spielzug wirkt, als wäre er einer spontanen Eingebung entsprungen. Man sagt ja gern, der Reiz des Experimentellen in der Literatur liege darin, gerade im selbstgewählten Korsett der Form zur Freiheit des Ausdrucks zu finden. Bei Wolf Haas indes ist von einem Korsett nichts zu merken, oder aber er ist ein Entfesselungskünstler von Graden - einfach alles ist, so scheint es, erlaubt. Die Geschichte beginnt mit dem Verzehr eines Beefburgers im London des Jahres 1988, auf dem Höhepunkt des Rinderwahn-Wahns. Der junge Benjamin Lee Baumgartner ist eigentlich Vegetarier, aber zu allem bereit, um mit der entzückenden Burgerverkäuferin ins Gespräch zu kommen. Und gleich der erste Satz des Buches fällt mit der Pointe ins Haus: "Verrate mir bitte nicht deinen Namen, sagte Benjamin Lee Baumgartner zu der () Burgerverkäuferin: Ich finde, wenn man den Namen von einem Menschen weiß, ist der Zauber schon zerstört." Womit man dieses Buch ja eigentlich gar nicht mehr weiterlesen müßte. Was man aber garantiert tut: angebandelt ist angebandelt. Der Gang der äußeren Handlung folgt nun der charmanten Idee eines seriellen Zusammentreffens von Seuche und Liebesinfektion: Benjamin ist immer zur Stelle, wenn eine prominente Epidemie ausbricht, und er verliert sofort den Kopf bzw. sein Herz an unterschiedliche Damen. In Peking ist es die Vogelgrippe und besagte Holländerin. In Santa Fe ist es die Schweinegrippe und wieder eine Burgerverkäuferin. Und am Schluß folgte der Quartalsverlieber einer Frau nach Bienenbüttel, wo sie auf einer Sprossenfarm arbeitet - wir erinnern uns: Ehec. Benjamin ist, man darf vermuten: wie Wolf Haas selbst, "empfänglich für Akzente und Dialekte, für S-Fehler und R-Fehler, für Halskrankheiten, Heiserkeiten und Holländisch". Er verliebt sich also in die Sprechweise seiner Gesprächspartnerinnen. Berichtet wird das alles von einem Erzähler, der im zweiten Kapitel als Ich hervortritt und sich als Benjamin Lee Baumgartners Freund aus Studententagen ausgibt. Dieser Erzähler entpuppt sich als Doppelgänger des Autors: "Seit 1996 lebe ich davon, Bücher zu veröffentlichen. Es ist eine angenehme Lebensweise, weil jene Mängel, Ängste und Zwänge, die man in anderen Berufen als Hindernis erleben würde, oft auf eine verquere Art nützlich sind." Peu à peu entlarvt der Erzähler sich selbst als unzuverlässig: Kaum etwas stimmt genauso, wie er es erzählt hat, Namen, Identitäten, Herkünfte, alles ist ein bißchen anders. Vor allem kommt er drauf, daß sein Freund ihn bei der London-Episode in einem entscheidenden Punkt an­gelogen hat und die reizende Burgerverkäuferin nicht mit der ihm, Benjamin, inzwischen Angetrauten - "der Baum" - identisch ist (was der Leser längst weiß oder ahnt, denn die Gattin hat keinen Akzent). Da "die Baum" im Schreibzimmer des Schriftstellers das Manuskript zu Gesicht bekommt und so nach achtzehn Jahren von Benjamins Betrug erfährt, wird der Erzähler unversehens zum Mitspieler. Der Leser findet sich bald in einem Spiegelkabinett der Plot-Volten, verfängt sich in den Erzählschlingen. Dabei spielt Haas als Romankonstrukteur mit offenen Karten. Denkt man beim Lesen an Bilder von M. C. Escher, findet sich eine Erklärung zu den Bildern von M. C. Escher. Nichts wird einfach nur so dahingesagt, alle Theorie bleibt nicht grau, sondern verwandelt sich in Figur und Handlung. Zum Beispiel das Tarskische Verbot der Vermischung vom Objekt- und Metasprache, also die Regel, daß ein Satz (à la "dieser Satz ist falsch") nicht über sich selbst sprechen darf - außer in der Literatur. Die "Verteidigung der Missionarsstellung" ist eine einzige Orgie der Übertretung des Tarski-Verbots - und ein Triumph konkreter Anschauung. Wenn von einem Paisley-Muster die Rede ist, formt sich der Satz zu einem ebensolchen, wenn zwei Menschen miteinander im Aufzug abwärts fahren, zieht eine Textsäule über die Seiten, wenn es um das Querlesen theoretischer Passagen geht, bildet eine einzige diagonale Zeile den Lesestoff, wenn ein chinesischer Taxifahrer redet, dann in chinesischen Schriftzeichen, wenn sich bei Mann und Frau eine "Gehirnleere" einstellt, bleiben zwei Seiten leer. Man könnte auch sagen: Der Wolf Haas der Post-Brenner-Periode hat eine brillante Art des Seitenschindens entwickelt. Andererseits ist die "dichteste Stelle im ganzen Roman" (Seite 139) ganz engzeilig und klein gedruckt und enthält, solcherart an der Oberfläche versteckt, des Autors ästhetisches Credo, nichts Geringeres als ein Bekenntnis zum Transzendentalen der Kunst. Weil Wolf Haas ein Meister des ­mäandernden Räsonnements wie des umgarnenden Dialogs ist, unterhält er auch dann, wenn er Kant behandelt oder den Sprachwissenschaftler Benjamin Lee Whorf (angeblich der Namenspatron des Helden) oder den Wandel von temporalen zu kausalen Konjunktionen (hierzulande sagt man gern "nachdem" statt "weil"). Schließlich ist es "für Verliebte ganz egal, worüber man redet. Man kann über alles reden, denn das Reden ist nur, weil noch kein Bett da ist." Der Witz des Wolf Haas ist manchmal schlicht, es ist der eines Virtuosen, dem sein Virtuosentum immer ein bißchen peinlich ist. Wir sehen dabei zu, wie sich ein Roman quasi aus sich selbst strickt, wie immer dieselbe Wolle nach immer neuen Strickmustern verarbeitet und aufgetrennt und wieder verarbeitet wird. Und wir dürfen auch die (in Klammern eingefügten) Strickanleitungen lesen: "NEIN, GANZ ANDERS. BESSER ERKLÄREN!" oder "HIER NOCH LONDON-ATMOSPHÄRE EINBAUEN. LEUTE. AUTOS. HÄUSER. 1988. THE BLICK FROM THE BRIDGE." Rezensenten haben das als Anmerkungen eines fiktiven Lektors interpretiert, aber es sind offenkundig Kommentare des - fiktiven - Autors: "WIE GEHT GLÜCK? MARGIT FRAGEN, OB SIE MIR WAS SCHREIBT. ODER EINFACH IRGENDWO WAS HERUNTERAXOLOTELN." Trotz dieser ausgestellten Künstlichkeit ist Haas' multiple Liebesgeschichte erstaunlicherweise herzerwärmend, sie handelt von "echten Menschen", nicht von wandelnden Beispielsätzen. Vielleicht auch deshalb, weil Wolf Haas Autobiographisches hineingestrickt hat, seine Studentenzeit in Salzburg, den Tod des Vaters. Dessen Obstvorlieben, "das zerdrückte Wort Zwetschge". [Ö. DEUTSCH! BESSER "ZWETSCHKE", AUCH PHONETISCH. ABER NICHT HOFMANNUNDCAMPEKONFORM!] En passant finden wir tiefe Einsichten in das Wesen der Liebe, mitunter werden sie auch verweigert: "Ich frage mich eigentlich nie, warum jemand mit jemandem zusammen ist. Man muss doch nicht jede Gleichzeitigkeit zu einer Kausalität hochstilisieren." So weit reicht der Arm der Konjunktionen. Seine Kritik an der Angstlust am Epidemischen und dessen medialer Verbreitung formuliert der Autor nicht direkt, das wäre ja langweilig, sondern durch den Plot und indem er Benjamin Lee Baumgartner zitiert: Auffällig sei, "dass die Seuchen, die ihn um den Verstand gebracht hätten, dann nie richtig ausgebrochen seien. Immer die große Bedrohung einer weltumspannenden Seuche, und dann war nicht viel. Es könnte doch sein, dass er die Seuchen auf sich gelenkt und abgefangen hat." Die Jury des Bremer Literaturpreises hat anerkannt, daß es auch komische Sprachkunstwerke gibt, und Wolf Haas den Preis des Jahres 2013 für das Buch mit dem unanständigen Titel zugesprochen, das eigentlich Benjamin Lee Baumgartner für seine holländische Freundin mit dem Faible für die einfachen Freuden schreiben hätte wollen. ---- Quelle: Pool Feuilleton; Ein Roman ist letztlich nichts anderes als ein Stück inszenierter Wirklichkeit, wobei ein Text im Hintergrund als Anlass für die Inszenierung mitläuft. Wolf Haas bringt seine Romane jeweils professionell auf die Literaturbühne, indem er zum Erscheinungstermin für alle Tageszeitungen ein ganzseitiges Interview gibt. Dabei wird immer erklärt, was der Roman nicht ist und welche Bedeutung die Innovation für den konkreten Fall hat. Der Leser überprüft in der Folge den Wahrheitsgehalt des Interviews und kauft und liest beiläufig den Roman zur Kontrolle. Die Handlung des Romans besteht vielleicht darin, den Leser bei der Hand zu nehmen und ihm das Gehen im Text, sprich Lesen beizubringen. Der Protagonist Benjamin Lee Baumgartner kommt immer wieder in den Sog einer Liebesgeschichte, die sich ähnlich wie die Vogelgrippe verbreitet. Wie bei einer Epidemie sind Schutzmaßnahmen notwendig, gleichzeitig aber auch ein Abchecken der seelischen Befindlichkeit. Tatsächlich verändert sich in diesem Liebesstrom alles, aber es lässt sich nicht beschreiben. Eine Ursache für die Irritation ist sicher das Sprachgefüge, im Englischen geht es dann im entscheidenden Augenblick um kleine Nuancen, etwa wenn jemand "Gevögel" statt Geflügel bestellt." (100) Und im Chinesischen löst sich das Schriftbild auf, verkleinert sich bis zu einem grauen Fleck und hinterlässt nur den Eindruck einer unverständlichen Botschaft. London 1988 und Peking 2006 sind für den Helden jeweils Anlass einer Epidemie und Sprachverstörung. Der Ich-Erzähler, der das alles auf die Reihe bringen soll, geht mit sich selbst ans Limit, erleidet dann auch einen Erzähl-Unfall und muss in die Erzähl-Reha. Für den Leser ist bald klar, dass Erzählen auch gefährlich werden kann. Neben dem humorvollen Umgang mit Geschichte, Erwartung, Ablenkung und Sackgasse eines Plots werden immer wieder handfeste Überlegungen zum Geschichten-Erzählen eingebaut. So darf kein Name genannt werden, wenn wirklich etwas Aufregendes wie in der Liebe passieren soll. Stadtbeschreibungen und Wetterbeschreibungen kann sich der Leser selbst machen, es genügt im Zeitalter von Word, wenn man den Befehl "einfügen" hinschreibt. Ab und zu muss es die Chance für Querlesen geben, dabei wird eine Zeile diagonal über die Seite gedruckt. Oft ist es egal, was gedruckt ist, Hauptsache es schaut wie ein Text aus, als Beweis für diese These ist ein Kapitel in Mikrozeilen gedruckt. Philosophisch gesehen sollte man sich beim Erzählen an Tarski halten, wonach kein Satz etwas über sich selbst aussagen darf. Und nichts ist letztlich so unmöglich darzustellen, wie das Unauffällige. Daraus ergibt sich auch der wundersame Buchtitel. "Die Verteidigung der Missionarsstellung" ist ein Plädoyer dafür, das Normale normal zu belassen, und somit quasi das Gegenteil einer Erzählung. Wolf Haas zerlegt die Lesererwartungen mit großer Ironie, gibt dem Leser aber dann doch noch einen Funken Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte, um den nächsten Roman zu lesen. Helmuth Schönauer


Rezension


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Personen: Haas, Wolf

Haas, Wolf:
Verteidigung der Missionarsstellung : Roman / Wolf Haas. - Hamburg : Hoffmann und Campe, 2012. - 238 S.
ISBN 978-3-455-40418-0

Zugangsnummer: 1592
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Haa - Buch