Carolin Philipps war viele Jahre im Lehrberuf tätig, bevor sie Romane v. a. für Jugendliche zu schreiben begann. Sie verwendet dabei das Stilmittel des offenen Schlusses, um zu selbstständigem Denken und Handeln anzuregen. Von ihren pädagogischen Ansprüchen her widmet sie sich vielfach gesellschaftspolitisch aktuellen Themen, wie etwa dem sexuellen Missbrauch in ihrem Roman „Wofür die Worte fehlen“ (Ueberreuter, 2010), der mit dem Österreichischen Jugendbuchpreis 2011 ausgezeichnet wurde. Charakteristisch für Philipps’ Arbeitsweise sind ihre detaillierten Recherchen der Romanstoffe: Sind es nun obdachlose Jugendliche in Bukarest, Kranke einer Leprastation auf der Osterinsel oder aber MigrantInnen auf dem Weg von Mexiko in die USA. In dieser Linie steht auch der vorliegende Roman, der ein am Anfang vierzehnjähriges Mädchen, Talitha, vorstellt, das seine Lebenssituation in tagebuchartigen Aufzeichnungen, beginnend 2013 in Damaskus, schildert. Auch wenn die Kriegseinwirkungen nicht zu übersehen sind, nimmt doch eingangs der Alltag – privat, familiär, schulisch, kirchlich – in wesentlichen Zügen seinen Lauf. Zunehmend aber manifestieren sich gesellschaftliche Disparitäten: Talitha muss von einer Privatschule in eine öffentliche wechseln, nachdem die Mutter ihren Arbeitsplatz verloren hat, muslimische Rebellen vollbringen ihr zerstörerisches Werk, aber auch die politische Linientreue wird brüchig, Widerstand in der einen oder anderen Form bis hin zu existenziellem Einsatz kommt auf die Tagesordnung. Während die relativ gut situierte Großfamilie noch um Wahrung der bisherigen Lebensweise bemüht ist, schlittert Talitha durch die Liebe zu einem jungen Mann in ein Netzwerk, das sich um die Weitergabe von Informationen über Kriegsverbrechen an internationale Organisationen bemüht. Bald wird sie von syrischen Sicherheitskräften gefasst, ein letaler Ausgang scheint unvermeidlich. Nur durch einen unglaublichen Zufall, ein Bekannter der Familie ist ebenfalls in diesem Sektor tätig, kann Talitha als für tot Erklärte überleben. Eine Flucht der Familie ist damit unausweichlich. Dank der ansehnlichen finanziellen Mittel, über die die Eltern verfügen, gelingt ihnen schließlich mit vielen Zwischenfällen die Flucht nach Europa, mit Deutschland als Ziel, wo man zu Verwandten stoßen möchte. Während für zentraleuropäische Lesende die geschilderten Umstände in Syrien ein realistisches Bild der Lebensumstände bieten, erlaubt die Erzählung von der Flucht der Autorin, ein breites Tableau von Schicksalssituationen zu skizzieren, das jugendlichen wie erwachsenen Lesenden gewisse Einblicke in die Alltagswelt von Schutzsuchenden veranschaulicht, gleichzeitig aber Stoff für wohl kontroversielle Diskussionen bietet. Abseits der Zahlen der Medienberichte über die MigrantInnen wird es auf diese Weise möglich, Einzelschicksale zu begreifen. Somit kann der vorliegende Band einen bedeutsamen Beitrag zum Verständnis der Flüchtlingsbewegungen leisten – und hoffentlich auch die dringende Notwendigkeit friedenspolitischer Maßnahmen bewusst machen.
Personen: Philipps, Carolin
Philipps, Carolin:
Talitha / Carolin Philipps. - Innsbruck : Obelisk, 2016. - 218 S.
ISBN 978-3-85197-825-4 fest geb. : ca. Eur 13,95
Prosaanthologien - Signatur: DR.A Phili - Buch