Dass Max erst elf Jahre alt ist, macht Rahel van Kooij spät klar. Ihr Ich-Erzähler ist (alt-)klug, bedacht und reflektiert und trägt die Fahne der Vernunft sehr hoch. Bisweilen stimmt er sogar zynische Untertöne an. Diese verantwortungsvolle Rolle hat sich Max jedoch nicht selbst gegeben, denn er ist der jüngere Bruder von Leo, 17 Jahre alt, mit der kognitiven Leistung eines 4-Jährigen. Das Wort „behindert“ will Max in der Beschreibung seines Bruders nicht verwenden, eher noch „bescheuert“, wie die großen Jungs sagen, die Leo manchmal mitspielen lassen. „Bescheuert ist ein kumpelhafter Ausdruck, so was werfen sich auch normale Geschwister von Zeit zu Zeit an den Kopf.“ Rahel van Kooij entwirft hier ein Familienbild, in dem vieles im Ungleichgewicht ist. Nicht nur, was die Verteilung der Intelligenz betrifft. Er sei ein „großer kleiner Bruder“, sagt Max’ Mama und mit der entsprechenden Haltung geht Max auch an die Aufgabe heran, die ein kleines Unglück an die beiden Burschen stellt: Sie finden eine verletzte Krähe mit beringter Kralle und mit kindlichen Logik schlussfolgert Leo: „Herr Krähe muss zu seiner Frau!“ Was folgt, ist ein amüsanter Roadtrip, der die beiden Buben nicht nur durch das krude Hinterland zu einer Vogel-Forschungsstation führt, sondern auch an ihre jeweiligen Grenzen. Mit einem Rasenmähertraktor, zu Fuß und einem kleinen Eiswagen – immer die verletzte Krähe im Schlepptau – wird eine Odyssee bewältigt, die die Autorin klar begrenzt: Es ist nur ein einziger elternfreier Tag, der reicht, um Max’ scheinbare Überlegenheit ins Wanken zu bringen, das emotionale Gepäck abzuwerfen und familiäre Rollen neu zu schreiben. Auf ihrem Weg passieren die beiden ungleichen Brüder dialogreiche Begegnungen: Mit rachsüchtigen Pensionisten, Hägar und Halvar und einem resoluten Mädchen mit einem Faible für Taxidermie. Die verletzte Krähe gerät da von Zeit zu Zeit naturgemäß in Vergessenheit und „Herr Krähe muss zu seiner Frau“ zum austauschbaren Mantra. Die eigentliche Mission, das wird schnell klar, ist: Autonomie gewinnen. Dieses literarische Mitschleifen eines beliebigen Anlasses einer Reise ist ein bewusster Schachzug: Einerseits sehr humorvoll, andererseits sehr klug wird die gehandicapte Krähe zum Anstoß, um über den Wert des Lebens und über bedingungslosen Glauben nachzudenken. Dass der Lehrmeister nicht unser kluger Ich-Erzähler ist, sondern der „bescheuerte“ Leo, ist nur eines der schönen Konzepte dieses Romans. Ein beglückendes Buch, das Herz und Hirn – nicht nur die seiner Protagonisten – ins Gleichgewicht bringt. ÖKJB-Preis 2020: Leo ist zwar Max' großer Bruder, aber es ist der Jüngere, der auf den Älteren aufpassen muss. Lebt Leo doch in seiner eigenen Welt. Und wenn er sich einbildet, einen verletzten Vogel retten zu müssen, dann hat Max keine Wahl. Was folgt, ist eine Road Novel mit 2 großartigen Hauptdarstellern, temporeich, voller skurriler Einfälle und vor allem mit viel Witz, bei der die schönen genauso wie die schwierigen Seiten in der Beziehung zwischen den beiden Brüdern deutlich und nachvollziehbar werden.
Personen: Kooij, Rachel van
JE
Koo
Kooij, Rachel van:
Herr Krähe muss zu seiner Frau / Rachel van Kooij. - Wien : Jungbrunnen, 2019. - 236 S.
ISBN 978-3-7026-5936-3 fest geb. : ca. € 17,00
Kinder/Jugendbuch - KuJ-Belletristik