Fragen zur eigenen Identität wurden in Literatur und Film schon oft mittels phantastischer Überzeichnung gestellt: vertauschte Körper, verwechseltes Geschlecht, Rollenübernahmen. David Levithan geht in seinem Roman den wohl radikalsten Weg und lotet den kleinsten gemeinsamen Nenner von Individualität und Existenz neu aus: Der oder die jugendliche ProtagonistIn ist geschlechtslos, namenlos und körperlos - jeden Tag (so der englische Originaltitel äEvery Dayô) erwacht er oder sie in einem geborgten Körper und lebt einen Tag lang das Leben eines anderen Menschen. Dass die Pronomen äerô oder äsieô und die dahinterliegende Geschlechterbinarität hier völlig unzureichend sind, zeigt die Konsequenz, mit der Levithan sein Gedankenexperiment durchführt. Er entwickelt eine erzählende Instanz, die nicht entweder Junge oder Mädchen ist, sondern nichts davon oder aber beides - eine Verkörperung des Gender_Gaps quasi. 2Ich hab nie darüber nachgedacht, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin.ô Wohl aber denkt A. (so nennt sich die Figur selbst: äSo konnte ich ganz bleibenô) über die eigene Existenz nach und taktet das Leben in Tagen, vermeidet ein Denken an Davor und Danach. So gewinnt der Roman eine ganz eigene narrative Dynamik - jedes Kapitel beginnt mit einem neuen Morgen. Die jeweils neue Verortung wird umso gewichtiger, als sich A. (zugegeben nicht ganz pathosfrei) in Rhiannon verliebt und die Rücksicht auf die geborgten Leben erstmals hinter die eigenen Bedürfnisse stellt. Die einzigen Konstanten in A.s Leben sind Erinnerungen, die eigene E-Mail-Adresse und fortan Rhiannon, mit der A. Kontakt über das Internet halten kann und sie in den wechselnden Körpern je nach Möglichkeit besucht. Dieses gleichsam virtuelle wie (fremd-)körperbetonte Leben ist nur eine der vielen klug konstruierten Komponenten im Roman. Äußerst durchdacht etabliert Levithan seine Grundidee und streift dabei viele Fragen: Wie die Bindung zu jemandem zum Katalysator für Existenzfragen werden kann, wie man (körperliche) Liebe mit einem fremden Körper vollziehen kann und wie weit man als LeserIn eigentlich selbst über die eigene Heteronormativität stolpert, wenn man A. durch die Liebe zu Rhiannon automatisch als Junge lesen möchte? All das: äußerst spannend! FOLDER ÖKJB-Preis 2015: Wie soll man leben und wie soll man lieben, wenn man jeden Tag in der Haut eines anderen Menschen aufwacht? Wenn man kein Zuhause, keine Familie, keine Freunde und keinen eigenen Körper hat? So phantastisch die Grundidee auch ist, liest sich dieser spannende und emotional berührende Jugendroman doch verblüffend realistisch. Ein cleveres Spiel mit Identitäten, überzeugend ins Deutsche gebracht von Martina Tichy.
Personen: Levithan, David Tichy, Martina
Standort: Bibliothek
JE.3 Levi
Levithan, David:
Letztendlich sind wir dem Universum egal : Roman / David Levithan. Aus dem Amerikan. von Martina Tichy. - Frankfurt a. M. : Fischer FJB, 2014. - 397 S.
ISBN 978-3-8414-2219-4 fest geb. : ca. EUR 17,50
JE.3 - Kinder und Jug. Bell