Pfeffer, Susan Beth
Die Welt, wie wir sie kannten
Buch

"Eine von diesen (Stunden wird die letzte sein)!", "Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens!", "Memento mori!" Solche und ähnliche Worte erinnern gelegentlich an die unbestreitbare Tatsache der Endlichkeit des Seins, angesichts derer, wie nicht zuletzt Thomas Bernhard formulierte, alles andere lächerlich ist. Bevor wir noch erinnern, dass es - wie schon die alten Griechen zu wissen meinten - am besten sei, nie geboren zu werden, greifen wir in Zeiten wie diesen prophylaktisch zur Bibliotherapie und testen, ob nicht doch zu lesen leichter als zu leben sei ... Das jüngste diesbezügliche Output der Produktionssparte "Dystopie" - Geschichten also, die in einer fiktiven, sich zum Negativen entwickelnden Gesellschaft spielen - ist weder seiten- noch gewichtsmäßig zu gering ausgefallen. Als Spitzentitel des neuen Verlags Chicken House Deutschland erscheint der Band "Flutland" der Debüt-Roman-Siegerin der "Times-Chicken-Competition" 2008 Emily Diamand, der in England sogar als Auswahltitel für Schulen empfohlen wurde: Im Motto bekennt sie offen ihre Hoffnung, dass den Lesenden die Geschichte im Kontext von Klimawandel und Plünderern gefallen werde: Im Jahr 2216 stehen tiefer gelegene Teile Englands unter Wasser, während sich das übrige Land blutrünstige Piraten, einfache Fischer und technikbesessene Schotten teilen. Als die Tochter des Premierministers entführt wird, bricht das vollständige Durcheinander aus: Bei den folgenden Kämpfen kommt dann - Fantasy-Action-mäßig ahistorisch - das ganz Inventar an technischem Gerät zum Einsatz: vom Segelboot (das schon vom Glanzfoliencover erwartungshorizontaufbauend entgegenleuchtet) bis hin zu DNA-Analysen und Spielkonsolen (vielleicht als Identifikationsmöglichkeit für die etwa zwölfjährige Zielgruppe). Wie auch bei den weiteren Romanen der Kategorie "Dystopie" tritt hier fast am deutlichsten deren Kennzeichen hervor: Die Zukunft wird in archaischer Weise (mit entsprechenden Topoi) als Schicksal vorgestellt, dem letztlich nicht zu entrinnen ist. Dem Menschen wird es verwehrt, seine eigene Zukunft in die Hand zu nehmen: "Ich bin nicht gekommen, um dich mit Dingen zu belasten, an denen du nichts ändern kannst." Ob beabsichtigt oder nicht, zur Initiierung solcher Lebensmodelle braucht man Texte, die die Lebenszeit (als "Lesefutter") okkupieren und - mit Reflex auf Brecht - davon abhalten, selbstbestimmte, alternative Lebensansätze zu entwickeln. Bei den anderen Neuerscheinungen dieses Typs stehen in jeweils abgewandelter Form weitere nicht beherrschbare Naturvorgänge im Mittelpunkt. Im ersten Teil von Michael Grants Trilogie "GONE. Verloren" verschwinden plötzlich alle, die älter als fünfzehn sind. Die Jugendlichen sind auf sich selbst zurückgeworfen, gründen eine FAYZ, also eine "Fallout Alley Youth Zone". Nachdem man sich dabei gleich an Nobelpreisträger William Goldings Roman "Herr der Fliegen" erinnert hat, folgt die Assoziation mit Gudrun Pausewangs "Die Wolke": Eine Wand rund um einen (nach einem Meteoriteneinschlag zerstörten und wieder aufgebauten) Atomreaktor schließt die Jugendlichenwelt ab - Strom und somit DVD- und MP3-Player funktionieren glücklicherweise. War es Gott, der das bewirkt hat, oder hat sich ein Hacker ins Universum eingeloggt? Nachdem die Jugendlichen ins erwachsenenleere AKW eingedrungen sind, erkennen sie aus Videoaufzeichnungen, gemacht zum Zeitpunkt des Verschwindens der über Fünfzehnjährigen, dass eine Kernschmelze unmittelbar be­vorstand, die nur ein kleiner, Gameboy spielender Bub verhindert hat ... Paranormale Fähigkeiten wie Lichtstrahlen(waffen) aus Handflächen u. Ä. tauchen im immer komplexeren und gewalttätigen Chaos auf. Die 46 Kapitel (des vorliegenden ersten Bandes) sind spannungsmäßig als Countdown für die Figur Sam gestaltet, dem noch 299 Stunden bis zu seinem 15. Geburtstag verbleiben. Ein weiteres Kennzeichen der "Science Fiction" ist die Entwicklung von Gegenwelten: Nicht Menschen herrschen, sondern z. B. Affen ("Planet der Affen"). Der immer wieder preisgekrönte britische Autor J. A. Henderson wählt in seinem Roman "Colony" Ameisen: Immerhin gibt es ganze 100.000.000.000.000.000 davon auf der Erde. Fast wie ein Rülpser aus der Zeit des Kalten Krieges erscheint dieser an Brutalität jeglicher Art nicht sparende Roman um militärische US-Forschungseinrichtungen, in denen spezielle Alarmpheromone von Ameisen auf soziopathische Menschen übertragen werden sollen, um deren Aggressionspotenzial als Soldaten zu potenzieren - wobei immerhin als gesellschaftskritischer Reflex der Major General Smedley Butler (aus 1935) zitiert wird, "dass er nie mehr gewesen sei als eine bessere Art von Muskelmann für die US-Konzerne." Besonders erschreckend sind Überlegungen wie die folgende: "Vielleicht brauchen wir ja eine Rasse, in der alle dasselbe denken und fühlen." Laut NASA-Mitteilungen haben die letzten Erdbeben als Gegenkraft zur Bremswirkung des Mondes die Erde wieder um einige Mikrosekunden beschleunigt. Eine Asteroid-Attacke auf den Mond hingegen, der somit irreversibel näher zur Erde rückt und Gezeitensysteme und Tektonik durcheinanderbringt, ist der Mittelpunkt des apokalyptischen Katastrophenromans "Die Welt, wie wir sie kannten" der US-Amerikanerin Susan Beth Pfeffer. Am Beispiel einer Familie, die von den allerärgsten Naturkatastrophen verschont bleibt, zeigt die Autorin anhand von tagebuchartigen Aufzeichnungen der sechzehnjährigen Miranda den absolut radikalen Wechsel der Lebenssituation auf. Erklärt durch zerstörte Kommunikationsverbindungen, ist zwar die Konzentration auf einen kleinen Ort auf die Dauer etwas dürftig, lässt aber manche Lesende vielleicht doch bewusster ihren Alltag erleben. Wie sagte doch Roberto Benigni: "Das Leben ist schön!" *ag* Franz Derdak


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Personen: Pfeffer, Susan Beth

Interessenkreis: Roman

Pfeffer, Susan Beth:
¬Die¬ Welt, wie wir sie kannten / Susan Beth Pfeffer. Aus dem Engl. von Annette von der Weppen. - Reinbek bei Hamburg : Carlsen, 2010. - 409 S.
ISBN 978-3-551-58218-8 fest geb. : Eur 18,40

Zugangsnummer: 2010/0108 - Barcode: 2-1210025-3-00000010-9
Schöne Literatur - Signatur: Pfeff - Buch