De Leeuw, Jan
Babel
Buch

Alice und Naomi sind knapp sechzehn Jahre alt, beide haben ihre Familien durch schreckliche Ereignisse verloren, beide leben in derselben Stadt. Sie haben viel gemeinsam. Aber Naomi ist arm, und Alice das reichste Mädchen der Welt. Sie sind die Protagonistinnen in Jan de Leeuws neuem Roman „Babel“. Beide, Naomi und Alice, leben in Babels Turm, dem höchsten Gebäude der Welt, das wie ein Ausrufezeichen des Kapitals in den Himmel ragt. Der Turm gehört Abraham Babel, Alices Großvater, und in ihm kreuzen sich die Wege von Geschäftsleuten, Politikern, Künstlern und allem, was Geld und Einfluss besitzt. Und am meisten Geld und Einfluss besitzt Babel selbst. Dennoch ist er unglücklich, denn er hat seine Frau und seinen Sohn bei einem terroristischen Anschlag verloren, nur er und seine Enkelin Alice überlebten. Alice ist seitdem gelähmt und haust ganz oben im Turm in einem goldenen Käfig unter der fürsorglichen Überwachung ihres Großvaters. Naomi dagegen ist buchstäblich ganz unten, im Keller des Gebäudes arbeitet sie beim hauseigenen Putzdienst und rangiert damit an letzter Stelle in der straffen Hierarchie des Babel-Kosmos. Ist es Zufall, dass sie hier ist? Zufall, dass sie in die Nähe der streng bewachten Alice gelangt? Ist es Schicksal oder ziehen andere im Hintergrund die Fäden? Kaum jemand in Babels Reich ist das, was er zu sein scheint, jeder verfolgt seine Interessen und benutzt andere Menschen wie Schachfiguren für seine Zwecke, wo es möglich ist. Nur dass diese Schachfiguren Gefühle empfinden – und einen freien Willen haben. Das Spiel um Macht und Ohnmacht, um Liebe und Tod, um Rache und den wahren Glauben bleibt deshalb unberechenbar, doch für alle steht viel auf dem Spiel. Auch die Leser/innen von de Leeuws fulminanter Dystopie können sich nie sicher sein, werden durch die personale Erzählsituation mit Perspektivwechseln immer über entscheidende Details im Unklaren gelassen und entdecken erst im Lauf der Erzählung die Motive der einzelnen Figuren. Dazwischen finden sich Auszüge aus einem essayistischen Buch über die Romanhandlung, das offenbar im Nachhinein die Ereignisse erzählt, kommentiert und erläutert und so die Funktion des antiken Chors im klassischen Drama einnimmt. De Leeuw findet dabei das richtige Maß zwischen Zeigen und Verschweigen und hält so die Spannung über den gesamten Roman aufrecht. Intertextuelle bzw. intermediale Bezüge auf die Bibel, auf „Alice’s Adventures Under Ground“, das Tarotspiel und starke Motive machen das Werk auch für erwachsene Leser/innen interessant. Lesenswert sind auch die in Gespräche zwischen den Figuren eingestreuten Reflexionen über die drei großen monotheistischen Religionen bzw. das Verhältnis der Gläubigen zu Gott, der Umgang mit dem Zweifel und die Frage, ob der Glaube den Menschen Hoffnung oder Leid bringt. Über allem steht jedoch die Frage, was Freundschaft, was Liebe vermag. Babel bündelt wie ein Brennglas zentrale Fragen der Gegenwart und projiziert diese in eine sehr nahe postdemokratische Zukunft, in der soziale, kulturelle und religiöse Konflikte die Gesellschaft erschüttern, während die Eliten sich abschotten und ihrer eigenen Hybris erliegen – auch ein Turm ist keine Insel. Fragt sich nur noch: Wann wird Babel verfilmt? Die mitreißende, düstere und spannende Dystopie von Jan de Leeuw ist ganz großes Kino und eignet sich hervorragend für die Leinwand. Das liegt nicht nur an den großartig geschilderten Schauplätzen und den plastischen Figuren, sondern vor allem an den brillanten Dialogen, die diese führen. Aber warum auf einen Film warten? Lesen Sie lieber gleich das Buch.


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Personen: De Leeuw, Jan Erdorf, Rolf

J De L

De Leeuw, Jan:
Babel / Jan De Leeuw. Aus dem Niederländ. von Rolf Erdorf. - 1. Aufl. - Stuttgart : Verl. Freies Geistesleben, 2018. - 436 S.
Einheitssacht.: Babel
ISBN 978-3-7725-2278-9

Zugangsnummer: 2019/0026 - Barcode: 2-2051105-8-00002096-1
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Buch