Berlin, 1938. Die elfjährige Franziska Mangold - von allen nur Ziska genannt - versteht die Welt nicht mehr. Plötzlich reden ihre früheren Freunde in der Schule nicht mehr mit ihr, Leu-te beschimpfen sie auf offener Straße, wenn sie nur vorbeigeht, sie muss sogar die Schule wechseln und jetzt jeden Tag quer durch ganz Berlin laufen. Und warum das Ganze? Weil ihre Eltern jüdischer Abstammung sind. "Mein Vater ist kein Jude, der ist Anwalt!", wehrt sie sich anfangs tapfer gegen Beschimp-fungen und Anfein-dungen, die ihr ab sofort tagtäglich begegnen. Wenn sie und ihre beste Freundin Bekka aber von anderen Kindern grundlos verprügelt werden, hilft nur noch eins: ein Survival Plan, auf dem die beiden Mädchen einzeichnen, wo sie sich in der Stadt am bes-ten verstecken können. Die Lage spitzt sich langsam zu: Ziskas Vater verliert seine Zulassung, die Eltern kaufen teure Tickets um nach Shanghai auszuwandern. Doch dann kommt alles ganz anders: Ziskas Vater wird verhaftet, die geplan-te Flucht ins Ausland wird immer und immer wieder hinausgezö-gert. In ihrer Not sehen die Mangolds nur noch eine Möglichkeit, um wenigstens ihre Toch-ter zu retten: die Kindertransporte. Hunderte von Kindern stehen bereits auf den Listen, um mit dem Zug aus Deutschland geschafft zu werden. So nun auch Ziska und ihre Freundin Bekka. Ziska bekommt einen Platz in einem Transport nach England. Eine Familie hat sich dort be-reit erklärt, sie aufzunehmen. So sehr sich Ziska auch sträubt: ihre Eltern wollen sie in Si-cherheit wissen und hoffen, dass Ziska in England eine Arbeitserlaubnis für sie beantragen kann, sodass auch sie nach England kommen können. Schließlich ist es so weit: Ziska muss ihre Eltern verlassen. Dass sie bald in Freiheit ist, nicht mehr wegen ihrer Herkunft beschimpft und verprügelt wird, realisiert sie zuzunächst kaum. Viel zu groß ist die Trauer, ihre Fa-milie und Freunde zurückzulassen. Sie kommt sich feige vor, möchte nicht weglaufen, sondern helfen. Doch so kann sie nur die Augen nach vorne richten und ihr nächstes Ziel anpeilen: ihren Eltern eine Arbeit in Eng-land zu beschaffen und sie so schnell wie möglich nachzuholen. Doch auch dieser Plan wird schnell vereitelt. Die Familie, die Ziska bei sich aufnehmen woll-te, holt sie nicht am Bahnhof ab. Alleine und zutiefst verzweifelt sitzt das junge Mädchen am Bahnhof Liverpool Street und wartet vergebens. Keine Pflegeeltern, kein neues Zuhause, keine Chance, ihre Eltern nachzuholen. Aber Ziska hat Glück im Unglück: Durch einen dummen Zufall lernt sie das Ehepaar Shepard und deren Sohn Gary kennen. Sie nehmen Ziska bei sich auf, geben ihr den "neuen" Namen Frances und sorgen ab sofort wie eine richtige Familie für sie. Anfangs fühlt sich Frances sichtlich unwohl: Mrs Shepard hatte ein jüdisches Kind gewollt, dabei war die alte Ziska doch im Grund gar keine Jüdin, sie war Christin, die nur zufällig jüdische Vorfahren gehabt hatte. Mit den Ritualen der orthodoxen Shepards kommt Frances anfangs gar nicht zurecht. Sie will keine Jüdin sein, hat sie doch erleben müssen, wie viel Leid und Kummer es einem bereitet, wenn man jüdisch ist. Doch nicht zuletzt durch ihren "Bruder" Gary passt sich Frances schnell an. Sie lernt die zu-nächst fremde Sprache in kurzer Zeit, kann sich bald ohne größere Probleme verständigen und endlich doch noch ihr ur-sprüngliches Ziel verfolgen und die Häuser in der Nachbarschaft abklappern und dort nach einer Anstellung für ihre Eltern suchen. Aber auch diese unbeschwerten Zeiten im Hause der Shepards, die Frances schnell wie ihre eigenen Familie liebt, gehen plötzlich zu Ende. Die Deutschen sind in Polen einmarschiert, ein Krieg, in dem auch England aktiv ist, lässt nicht lange auf sich warten. Erneut muss Fran-ces ihre Familie zurücklassen und aus London fliehen. Der Roman ist in der ersten Person aus Ziskas / Frances' Sicht geschrieben und gerade diese Erzählweise bietet die Möglichkeit, die Gedanken des Mädchens auf sehr eindrucksvolle Weise zu schildern. Als Leser fiebert man mit, wenn sie auf der Flucht vor Jungen aus ihrer Klasse ist, möchte mit ihr weinen, wenn ihr Vater zusammengeschlagen und verhaftet wird und sich mit ihr freuen, als sie in Amanda Shepard eine zwei-te Mutter findet. Besonders beeindruckend sind dabei die Gedanken des Mädchens, das zu Anfang gar nicht versteht, wieso sie plötzlich ein Außenseiter ist, wieso ihre Familie schikaniert und verachtet wird. Ziska fühlt sich als Christin, träg ein Kreuz und geht in die Kirche. Beinahe zwanghaft versucht sie, einen Unterschied zwischen sich und den anderen Kindern zu suchen, findet ihn aber nicht, was es für sie noch schwerer macht, zu verstehen, weshalb sie ausgeschlossen wird. "Ich für meinen Teil konnte weder sagen, was ‚jüdisch' genau bedeutet, noch warum es auf dem Schulhof irgendeine Rollen spielen sollte." Durch ihr kindliches Gemüt und ihre Unkenntnis der deutschen Politik in dieser Zeit, versteht Ziska vieles zunächst falsch, so beispielsweise, als sie ihre alte Schule verlassen muss, weil diese über den Sommer "ju-denrein" gemacht wird: "Ich nahm an, freundliche Juden wollten unserer ziemlich heruntergekommenen Schule endlich einmal eine Generalüberholung spendieren. Was für ein Reinfall!" Zusammen mit Ziska kann der Leser mitverfolgen, wie sich ihr Gespür für die politischen Machtspiele der Nationalsozialisten verschärft und Ziska sich später in England zu einem neuen Menschen entwickelt, was auch durch ihren neuen Namen Frances signalisiert wird. Selbst hier im Ausland erlebt sie, was es heißt, jüdisch zu sein. Nur wenige Kinder haben das Glück, in einer ähnlich guten Familie aufgenommen zu wer-den. Viele leben in den Ghettos der Stadt, arbeiten bis zu 12 Stunden am Tag in Fabriken und haben so nicht einmal die Mög-lichkeit, die neue Sprache zu lernen. Auf der anderen Seite lernt Frances vor allem von ihrem neuen Bruder Gary viel über das Judentum und übernimmt viele der jüdischen Rituale der Familie. Bisher hatte sie nie ge-wusst, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Doch je mehr sie von dieser Religion erfährt, desto faszinierender wird es für sie und desto mehr ver-steht sie, dass es keinen Grund gibt, sich für diese Religion zu schämen, auch wenn sie in Deutschland dafür verfolgt wurde. Ein "kleines jüdisches Wörterbuch" am Ende des Romans erklärt die gebräuchlichsten, jüdi-schen Worte, die im Roman benutzt werden, so dass auch Leser, die nicht wissen, was die Tora ist oder worum es sich beim Pessach handelt. Der Roman ist wirklich mehr als lesenswert. Auf elegante Weise werden die verschiedenen Themen National-sozialismus, Krieg und Flucht, Religion, Freundschaft, Familie und Erwach-senwerden kombiniert. Zudem steigert der geschickte Schreibstil von Anne C. Voorhoeve die Freude am Lesen. Nicht umsonst wurde der Roman 2008 mit dem Buxtehuder Bullen für das beste deutschsprachige Jugendbuch ausgezeichnet.
Personen: Voorhoeve, Anne C.
Voorhoeve, Anne C.:
Liverpool Street / Anne C. Voorhoeve. Gelesen von Sascha Icks. - Hamburg : Hörbuch Hamburg, 2008. - 6 CDs (ca. 445 Min. mit Tracks) ; 12 cm, in Behältnis 13 x 14 x 2 cm
ISBN 978-3-86742-638-1 : EUR 24.95
Erzählungen ab 13 Jahre - Signatur: Ju 3 Voorh - Hörbuch (CD, MC)