Der 9-jährige Sohn des Lagerkommandanten von Auschwitz freundet sich heimlich mit einem 9-jährigen jüdischen Jungen an, der im Lager lebt.
Rezension
Von „klasse Buch", „wunderbare Erzählung" bis „bemühte Geschichte", „konstruierte Lehrhandlung" reichen mir bekannte Äußerungen zu dem Buch, das mit vielen renommierten Preisen ausgezeichnet und in 25 Sprachen übersetzt wurde. Der Autor erzählt die Geschichte eines Neunjährigen, der mit Mutter und Schwester Berlin verlassen muss, weil sein Vater auf Wunsch des „Furors" eine neue Arbeit übernommen hat, Kommandant von „Aus-Wisch" wurde. Für Bruno ist die neue Welt fremd und langweilig, das Gebäude, auf dem das Haus steht, trostlos. Beim Blick aus seinem Zimmer sieht er hinter einem hohen Drahtzaun viele Leute, alte und junge, alle in gesteiften Pyjamas. Und Soldaten. Er fragt den Vater: „Wer sind die vielen Leute da draußen?" „Ach, die sind eigentlich gar keine Menschen . .. jedenfalls nicht in dem Sinn, wie wir den Begriff verstehen." Aus Forscherdrang und Langeweile spaziert Bruno an dem Zaun entlang, trifft einen Jungen auf der anderen Seite des Zaunes, freundet sich mit ihm an, merkt, dass Schmuel hungert, bringt ihm etwas zu essen mit. Eines Tages zwängt er sich unter dem Zaun hindurch, steigt in den von Schmuel mitgebrachten Pyjama und will mit dem Freund nach dessen verschwundenem Vater suchen. Das Ende ist schrecklich. - In John Boynes faszinierender Geschichte, er nennt sie Fabel, verkörpert ein Kind das ewige Verlangen des Menschen nach Unschuld , während die Erwachsenen das Funktionieren (Vater), Kälte und Grausamkeit (Oberleutnant Kobler), das sich Fügen (die Mutter) abbilden.
Die Geschichte lässt einen nicht unberührt. Trotz der Neugier auf ihren weiteren Verlauf hat mich während des Lesens aber zunehmend Unbehagen erfasst. Wenn Fabel oder Parabel beabsichtigt sind, können bzw. müssen Details fehlen. Doch bei dem Zugriff auf ein deutlich erkennbares Stück Zeitgeschichte darf historische Genauigkeit nicht belanglos sein.
Was mich u. a. in diesem Buch stört, sind:
1. Die auf klein-kindlich getrimmten Namen wie „Furor" und „Aus-Wisch".
2. Die fehlende Entwicklung der Kinder: Bruno wird künstlich naiv gehalten. Bei Schwester Gretel (!), drei Jahre älter, aber noch dem Spiel mit Puppen verhaftet, hat die damals übliche Jungmädelpflicht, die sie schon in Berlin erlebt haben müsste, keine Spuren hinterlassen. Offensichtlich hat sie nie etwas von Juden und der Judenfeindlichkeit der Nazis gehört. Dass sie sich in einen jungen, schnieken, aber widerlichen Offizier verliebt, zeugt eher von Naivität als von Reife.
3. Sachliche Fehler: Z.B. die geschilderte Reserviertheit des Führers („Furors") Kindern gegenüber. Genau das Gegenteil, demonstrative Zuwendung, wurde von Hitler propagandistisch in Bild und Wort praktiziert.
Niemand hätte den Zaun um das Lager Auschwitz (ein elektrisch gesicherter doppelter Stacheldrahtzaun) überwinden bzw. monatelang unbeobachtet mit einem Menschen auf der anderen Seite kommunizieren können.
Eine große Anzahl von Büchern berichtet von der Menschenverachtung während der Naziherrschaft, dem täglichen Grauen, das Erwachsene und Kinder in den Konzentrationslagern erleben mussten. Die Geschichten sind gut recherchiert oder rein autobiografisch (z.B. Schoschana Rabinovici „Dank meiner Mutter", Ruth Klüger „weiter leben"). Sie wecken keine Illusionen über Menschen und ihr Verhalten, setzen aber auch Signale der Hoffnung, indem sie zeigen, wie immer wieder Junge und Alte für ihre Mitmenschen Angst, Hunger, Unrecht, Tortur, Tod auf sich genommen haben. Es stimmt also nicht, dass nur eine „märchenhafte Erzählung, die mit Elementen der Wirklichkeit spielt, gerade dadurch jungen Lesern die Augen für das Gute vor den unzählbaren Abgründen des Holocaust öffnen kann" bzw. umgekehrt „dass in jeder komplexen Geschichte über den Völkermord Tugenden wie . . . Offenheit, Herzensgüte und bedingungslose Freundschaft hoffnungsarm in einem Universum des Leids verschwinden" (S. „Die Zeit" v. 6.9.07 zu diesem Buch). Empfehlend möchte ich auf ein Buch hinweisen, das im Ev. Buchberater 3/07 besprochen wurde. Es berichtet nicht vom Leben in einem KZ, sondern von dem geplanten Abtransport dänischer Juden dorthin, enthält nicht nur, aber viel Authentisches und zeigt, wie Menschen in Akten einzigartiger Zivilcourage ihr Leben riskierten, um das anderer zu retten (Toksvig „Hitlers Kanarienvogel").
Beim Diskutieren (evtl. in altersmäßig gemischten Gruppen) könnten z.B. folgende Fragen zum Gespräch helfen:
1. In welchen Zeitrahmen ist das Buch eingebettet?
2. Welche zeitgeschichtlichen Informationen fehlen für junge Leser?
3. Wie kommt es, dass junge und ältere Menschen das Buch unterschiedlich beurteilen?
4. Warum praktiziert Bruno seine kleinen Gesten der Menschlichkeit heimlich?
5. Wonach definiert Brunos Vater den Begriff Mensch? Was meint er mit „wir" (S. 69, 70) ? Wie sieht das Menschenbild des Nationalsozialismus aus?
6. Welche Illusion oder Wahrheit vermittelt das Buch?
Rezensent: Irmgard Schmidt-Wieck
Personen: Boyne, John Jakobeit, Brigitte
Boyne, John:
Der Junge im Gestreiften Pyjama : Eine Fabel / John Boyne. Dt. von Brigitte Jakobeit. - 2. Aufl. - Frankfurt am Main : Fischer, 2007. - 266 S. ; 21 cm. -
ISBN 978-3-596-85228-4
Signatur: Ju 2/2 - Bücher