Lindgren, Astrid
Die Menschheit hat den Verstand verloren Tagebücher 1939-1945
Bücher

In den Jahren 1993-1945 hat Astrid Lindgren aufmerksam die Geschehnisse rund um den 2. Weltkrieg aus dem politisch „neutralen“ Schweden mitverfolgt und diese kontinuierlich in ihren insgesamt 19 Tagebüchern dokumentiert, die in der Presse einvernehmlich als „Kriegstagebücher“ bezeichnet werden.


Rezension

Diese einzigartigen Dokumente, die jedoch nicht vollständig publiziert wurden, enthalten nicht nur ihre zu Papier gebrachten Gedanken hinsichtlich der jüngsten Entwicklungen im Krieg, sondern ebenfalls Zeitungsberichte, Pressemitteilungen, fotografischen Aufnahmen und sogar Abschriften von streng geheimen Briefen von der Front und von jüdischen Flüchtlingen, die Lindgren verbotenerweise während ihrer Tätigkeit bei der Briefzensur abgetippt und aufbewahrt hat. Angesichts der gegenwärtig in Europa nicht abreißenden Flüchtlingsströme erlangen diese Tagebücher eine erschreckende Aktualität.
Das Besondere an diesen Kriegstagebüchern ist, dass „unmittelbar aus den Ereignissen heraus gesprochen wird. So eröffnet sich heutigen Lesern vor einem Wissenshorizont, den der Abstand von mehr als siebzig Jahren mit sich bringt, das Geschehen so, wie es sich Lindgren im schwedischen Inseldasein von Tag zu Tag darstellte: Zuvor Unvorstellbares erweist sich immer wieder als Wirklichkeit. Das Ausmaß der Gewalt, die täglichen Schreckensmeldungen übersteigen jede Vorstellungskraft“. Dabei gelangt Lindgren zu der erschreckenden Erkenntnis, dass wohl nur der Krieg dafür ausschlaggebend dafür ist, dass sie und ihr Ehemann ein gutes Einkommen genießen dürfen. Dieses immer wieder ins Gedächtnis gerufene ̶ angesichts der Umstände mit einer bitteren Beigeschmack belegte ̶ „Glücksgefühl“ über das eigene Verschontsein wird an mehreren Passagen anhand des Aufzählens von Lebensmitteln und Geschenken anlässlich von Feiertagen und Geburtstagen deutlich. Dennoch klingt die Angst vor dem Einmarsch insbesondere russischer und später auch deutscher Truppen immer wieder an.
Zudem finden während der Zeit der Tagebucheinträge zwei für Lindgren so einschneidende und konträr verlaufende Erlebnisse statt: Zum einen droht ihre Ehe aufgrund der Beziehung Stures zu einer anderen Frau zu zerbrechen. Nur an wenigen Stellen gestattet sie sich in dieser Zeit nur sporadisch geführten Eintragungen Bemerkungen zu ihrer Gefühlswelt:
„Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich. Sonst schreibe ich immer ein wenig darüber, was zuletzt passiert ist. Jetzt kann ich nur schreiben: Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück. Ich will versuchen, »die Morgendämmerung abzuwarten«, aber wenn nun einmal gar keine Morgendämmerung kommt?“ .
Zum anderen beginnt mit der Veröffentlichung von Pippi Langstrumpf allmählich ihre Karriere als Kinderbuchautorin.
Insgesamt betrachtet gewinnt man als Leser der Kriegstagebücher einen noch dezidierteren Eindruck von Astrid Lindgren, eine kluge Frau, die sich nachfolgend vehement für den Frieden auf der Welt einsetzen wird und die literarisch die in den Tagebüchern festgehaltenen Kriegseindrücke in ihre Werke (Die Brüder Löwenherz, Pippi Langstrumpf, Kalle, Eva-Lotte und Rasmus) unterschwellig miteinfließen lässt.
Aufgrund dieser Fülle an Neuerscheinungen zum Leben und Wirken Astrid Lindgrens fügt sich das Bild dieser überaus bemerkenswerten Persönlichkeit Stück für Stück zusammen und betont eine bisher von Verlagsseite verschwiegene, in der Forschungsliteratur jedoch immer wieder angedeutete schwierige Phase ihres Lebens. Diese während dieser schweren Zeit empfundene Traurigkeit und das ohnmächtige Gefühl der Leere sind wohl in erster Linie dafür verantwortlich, dass Lindgren ihre traurigen und bemitleidenswerten Charaktere so authentisch darzustellen vermochte und vielleicht nicht die, wie von ihr selbst erwähnten, Kindheitserinnerungen an eine traurige Jugend. Das wäre eine Quintessenz, die man u. a. aus den jüngsten Publikationen mit diesen sehr privaten Einblicken ziehen kann. Für die wissenschaftliche Lindgren-Forschung aber auch für den interessierten Leser stellen daher der Briefwechsel, das vielschichtige Autorenporträt und die Kriegstagebücher als einzigartige Zeitdokumente zweifelsohne eine wertvolle Informationsquelle dar, geben diese doch Aufschluss über die Lebensumstände der Schriftstellerin zu Beginn und der „Hochzeit“ ihrer Karriere.

Doch um als Rezeipient ihr schriftstellerisches Wirken „genießen“ zu können, braucht es diese neuen Erkenntnisse im Sinne der Rezeptionsästhetik eigentlich nicht. Denn wie schon Lindgren in Bezug auf die in der Presse kontrovers diskutierten unterschiedlichen Lesarten der Brüder Löwenherz so treffend formulierte: „Ein Buch wird in der Zusammenarbei

Rezensent: Inger Lison


Personen: Haefs, Gabriele Kutsch, Angelika Lindgren, Astrid

Schlagwörter: Tagebuch Biographie

Lindgren, Astrid:
Die Menschheit hat den Verstand verloren : Tagebücher 1939-1945 / Astrid Lindgren. Dt. von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs. - Berlin : Ullstein, 2015. - 573 S. : Ill. ; 22 cm. -
ISBN 978-3-550-08121-7

Zugangsnummer: 34762
Einzel- und Familienbiografien sowie Briefe und Tagebücher einzelner Personen aus allen Sachgebieten - Signatur: Bb - Bücher