Ullmann, Linn
Ein gesegnetes Kind Roman
Bücher

Generationenkonflikte und Gewalt durch Sprachlosigkeit.


Rezension

Krisen und tiefreichende Konflikte gehören zur Entwicklung des Menschen. Aber nicht das Auftreten von Konflikten ist dabei entscheidend, sondern die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen. Linn Ullmanns neuer Roman erzählt von der Sprachlosigkeit zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern und den daraus resultierenden Konflikten. Thematisiert werden Schuld, Verantwortung, unausgesprochene Familiengeheimnisse sowie Kindheit zwischen strenger Väterlichkeit, Ferienzeit und seelischen Abgründen.
Die drei Halbschwestern Erika, Laura und Molly, von denen jede eine andere Mutter hat, verbringen jeden Sommer mit ihrem Vater Isak die Ferien auf der Insel Hammarsö. Die Ferien sind bestimmt von Inselspielen, einer Mädchenclique, in der die 14-jährige Erika um ihren Platz ringt, und Streitereien um einen Jungen, einem komischen Außenseiter namens Ragnar, zu dem Erika sich hingezogen fühlt. Als die Freundinnen davon erfahren, machen sie gnadenlos Jagd auf ihn. Ragnar flieht, stürzt ins Meer, und als die Kinder mit Steinen nach ihm werfen, wird er getroffen – und stirbt. Ein Ereignis, über das bis heute geschwiegen wird.
Den LeserInnen schlägt ein Gefühl eisiger Kälte entgegen, als sich die Schwestern im Winter 2005 auf den Weg machen, um ihren inzwischen alt gewordenen Vater, den sie 25 Jahre nicht gesehen haben, auf Hammarsö zu besuchen. Sie wollen etwas wieder gutmachen, sind sich aber nicht sicher, ob sie wirklich ans Ziel wollen. Ein Handy liegt bereit, um jederzeit abzusagen zu können. Das Wetter, das anhaltende Schneetreiben, die innere und äußere Kälte wären Grund genug. Während der Fahrt wechselt retrospektiv die Perspektive von der Gegenwart in die Vergangenheit. Dabei bricht die Erinnerung an die Schuld von damals mit aller Macht wieder auf. Auch wenn sie nicht daran denken wollen, wird den Schwestern bewusst, welche Auswirkungen Isaks, aber auch ihr eigenes Schweigen auf ihre alltäglichen Nöte und Konflikte innerhalb der Familie sowie ihrer Beziehungen haben.
Erinnerungen tauchen auf: Als Ragnar stirbt und sie darüber sprechen will, singt ihr der Vater zur Beruhigung ein Schlaflied. Seine Ignoranz schürt Erikas Schuldgefühl. Auch die jüngeren Schwestern werden nicht verschont. Die fünfjährige Molly verhält sich jedoch wie eine Schnecke. Als gute Hörerin denkt sie sich ihren Teil und macht heimlich, was sie will „HoHoHo“. In Notsituationen kneift sie die Augen zu, hält sich die Ohren zu und flüstert: „Hilfe! Hilfe! Hilfe“. Lauras Leben ist von Unsicherheit geprägt. Sie handelt impulsiv und unüberlegt. Entscheidungsprobleme machen ihr zu schaffen, unfähig zu tieferen Gedanken findet sie Ausflüchte, wenn’s ans „Eingemachte“ geht. Sie verschließt ihre Augen und Gefühle vor den Anforderungen des Lebens, denn ihre Maxime heißt „Nicht sehen – Nicht wissen – Nicht denken – Nicht reden“. Nun sitzen die drei in einem Hotel und stellen sich die Frage, ob ihr Besuch beim Vater willkommen sei. Laura vermutet, er sei zu alt für Gespräche, Erika hat vorsorglich ein paar Videos eingepackt und Molly ist der Meinung, dass es viele Themen gäbe, über die gesprochen werden könne. Und nach einer letzten Tasse Kaffee beschließen sie, das letzte Stück zu Isak zu fahren - der sich nicht über ihren Besuch freut.

Ullmann zeichnet nicht das Portrait eines einzelnen Menschen, sondern spiegelt ein gesellschaftliches, alltägliches Problem. Gewalt hat viele Gesichter. Häufig kommt sie daher als Resultat der Sprachlosigkeit, als subtil durchdringender Reiz, als lähmender atmosphärischer Niederschlag, der keine äußeren Verletzungen macht. Die Dramaturgie des Roman

Rezensent: Hilde Schnittker


Personen: Ullmann, Linn Kronenberger, Ina

Schlagwörter: Familie Gewalt Generationen Sprachlosigkeit

Ullmann, Linn:
Ein gesegnetes Kind : Roman / Linn Ullmann. Dt. von Ina Kronenberger. - 1. Aufl. - München : Droemer, 2006. - 380 S.; 21 cm. -
ISBN 3-426-19734-0

Zugangsnummer: 180
Romane, Erzählungen, Dramen, Lyrik - Signatur: SL - Bücher