Ein ursprünglich als Drehbuch entstandenes Szenario über einen Pockenausbruch im stalinistischen Russland 1939.
Rezension
Eine schneereichen Nacht einige hundert Kilometer östlich von Moskau. In einem Geheimlabor arbeitet Rudolf Iwanowitsch Mayer in seiner Isolierkammer an einem Wirkstoff gegen die Pestviren, als ihn die Pförtnerin ans Telefon ruft. Er soll nach Moskau kommen und – er findet verfrüht – über seine erfolgreiche Forschung berichten. Durch diese Unterbrechung und mutmaßlich eine kleine Unachtsamkeit wird die Pest aus dem Labor in die Welt getragen. Auf nur 100 Seiten und in sprechenden Szenen im Zugabteil, im Hotel, vor dem Volkskommissariat für Gesundheit, im Krankenhaus, auf dem Bahnhof, in Schlafzimmern und vor Wohnungstüren entfaltet die erfahrene Autorin die ganze Welt des stalinistischen Russland. Als Mayer in Moskau erkrankt, begibt sich der untersuchende Arzt, der die Lungenpest sofort erkennt, mit ihm in Selbstisolation und informiert per Telefon den Klinikchef über den Pestausbruch. Das setzt nicht nur Ärzte und Volkskommissare in Bewegung, sondern auch den – im Text so genannten - sehr Mächtigen Mann mit georgischen Akzent, der das drohende Problem zunächst nicht versteht und Liquidierung verspricht, wo es nur um Quarantäne geht. Unverzüglich werden Listen erstellt mit allen Kontaktpersonen, die Mayer auf dem Weg nach Moskau und in der Stadt hatte, und die Geheimpolizei wird aktiv. Erfahren mit politisch motivierten Verhaftungen reagieren die Moskauer panisch, eine Frau denunziert ihren Mann, ein Mann kommt der drohenden Abholung durch Selbstmord zuvor. Als die Epidemie eingedämmt ist und der Bezirksarzt – von seiner Frau schon verloren geglaubt – nach Hause zurückkehrt, sagt er: „Es war die Pest. Nur die Pest“
In ihrem Nachwort skizziert die Autorin die Hintergründe des Textes und ihr Interesse an der Wechselwirkung zwischen der „Macht des Staates und der Macht der Natur“. Interessant für uns Lesende, dass es in Russland immer noch auf jedem Bahnhof ein Büro der Geheimpolizei gibt. Für alle politisch Interessierten.Rezensent: Gabriele Kassenbrock
Personen: Ulitzkaja, Ljudmila Braungardt, Ganna-Maria
Ulitzkaja, Ljudmila:
Eine Seuche in der Stadt : Szenario / Ljudmila Ulitzkaja. Dt. von Ganna-Maria Braungardt. - München : Hanser, 2021. - 110 S. ; 21 cm. -
ISBN 978-3-446-26966-8
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