Der Altphilologe Peter Hurd entscheidet sich 1992 im belagerten Sarajewo zu bleiben, ein Experiment mit dem eigenen Ich.
Rezension
Der am 19. Mai in Graz verstorbene Autor kehrt in seinem letzten Buch wieder in seine Heimatstadt zurück. Zum Ich-Erzähler macht er den Übersetzter und Autor Rajko, der Hurd bewundert und ihm Obdach zunächst bei seiner Tante und dann bei seiner Mutter gewährt. Vor dem Hintergrund dieses Rahmens lässt uns Karahasan tief in den Alltag, die Nachbarschaft und die Abgründe in der abgeriegelten und unter Granatfeuer liegenden Stadt blicken. In einer Szene im Bunker reflektiert Rajko das Verhalten seiner Mitmenschen. „Die einen schienen zu sagen: es ist Krieg und die Welt zerfällt, deshalb müssen wir die Gesetze der Welt wie ein Heiligtum in uns bewahren, denn nur so können wir Menschen bleiben. (...) die anderen (...) jetzt ist die Gelegenheit und der richtige Moment, alles zu tun, was mein Herz begehrt." Emotionslos und distanziert begibt sich der Intellektuelle Hurd auf eine - u.a. von Drogen gesteuerte - Reise zu den eigenen moralischen Grenzen. Obwohl es den beiden Protagonisten schließlich gelingt, die Stadt lebend zu verlassen, setzt sich der körperliche und menschliche Verfall Hurds fort.
Der Roman zeigt Krieg als „eine Zeit des entblößten Menschen" und weist damit über die historische Situation in Sarajewo hinaus in unsere europäische Gegenwart. Für eine geübte, belastbare Leserschaft.Rezensent: Gabriele Kassenbrock
Personen: Karahasan, Dzevad Wolf-Grißehaber, Katharina
Karahasan, Dževad:
Einübung ins Schweben : Roman / Dževad Karahasan. Dt. von Katharina Wolf-Grießhaber. - Berlin : Suhrkamp, 2023. - 302 S. ; 21 cm. -
ISBN 978-3-518-43122-1
Romane, Erzählungen, Dramen, Lyrik - Signatur: SL - Bücher