Eine Suche nach alter Schuld in einer Familie.
Rezension
In diesem schmalen Bändchen gibt es keine linear erzählte Handlung und keine klar umrissenen Personen. Erst ganz allmählich ahnt man, was passiert sein muss: In einem Dorf verschwand eines Tages die Tochter einer Familie spurlos, der Vater hat sich in die Stadt abgesetzt, der Sohn ist im Alter von 40 Jahren angeblich ertrunken. Zurückgeblieben ist nur die Mutter, „die Nachbarin“. Eine Ich – Erzählerin, die mit einem blinden Partner im Nachbarhaus wohnt, versucht herauszufinden, was in der Familie passiert sein muss. Jäckle wählt eine ungewöhnliche Form. Sie erzählt nie das, was eigentlich erzählt werden soll. Die Perspektiven verschieben sich immer wieder, nie weiß man so ganz sicher, wer wer ist. Bestimmte Sätze oder Bilder werden häufig wiederholt, ohne dass ihre Bedeutung sich erschließt. Mag das zunächst völlig verwirren, so wird im Verlauf der Geschichte klar, dass die Erzählweise eine Form für die Schilderung verdrängter Schuld ist: die Tochter wurde als junges Mädchen vom Vater Männern angeboten, Mutter und Bruder waren sprachlose Mitwisser des Missbrauchs. Selbst am Schluss sind Personen und Zusammenhänge noch nicht eindeutig, der Leser muss sich selbst ein Bild zusammensetzen.
Für anspruchsvolle Leser mit Sinn für experimentelle Erzählkunst.Rezensent: Heidrun Martini
Personen: Jäckle, Nina
Jäckle, Nina:
Gleich nebenan : Roman / Nina Jäckle. - Berlin : Berlin Verl., 2006. - 126 S.; 21 cm
ISBN 3-8270-0654-6
Romane, Erzählungen, Dramen, Lyrik - Signatur: SL - Bücher