Rezension
Zumindest als Schüler sind die meisten von uns der Ballade begegnet. Dem einen mögen die Schrecken des Auswendiglernens noch gegenwärtig sein, das ermüdende Herunterleiern vor der gelangweilten Klasse, stets den gespitzten Rotstift des Lehrers im Nacken. Der andere mag sich, allen ungünstigen Bedingungen der ersten Begegnung zum Trotz, des schaurig-schönen Zaubers erinnern, der von „John Maynard“, „Nis Randers“ oder der „Bürgschaft“ ausging. Während die klassische Ballade das Düster-Schicksalhafte von Rittern, Königen und Kapitänen bevorzugt, finden wir, je moderner die Autoren sind, die Kämpfe und Niederlagen unserer Zeit, Erich Kästners „Verzweiflung Nr. 1“ zum Beispiel, oder seine „Ballade vom Nachahmungstrieb“: „Die Kinder, die im Hinterhofe spielten, beschlossen Neumanns Fritzchen aufzuhängen …“
Die Klassiker, Goethes „Zauberlehrling“, der „Erlkönig“ oder der „König von Thule“, Schillers „Taucher“, „Die Kraniche des Ibykus“ oder „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer, sind in jeder der vorliegenden Anthologien vertreten, die Vertreter der Moderne nicht bei allen.
Hans Joachim Hoof, Herausgeber der „Deutschen Balladen“ bei Piper, beginnt, genau wie Hartmut Laubhütte in der Reclam-Ausgabe „Deutsche Balladen“, mit Ludwig Gleim (hier: „Siegeslied nach der Schlacht bei Prag“, bei Laubhütte „Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht“), beschließt sie jedoch mit Georg Trakl („Die junge Magd“). So bleiben wichtige Autoren des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt und den Leserinnen und Lesern wird das Vergnügen vorenthalten z. B. vom Tod des „Blutigen Bomme“ (Christa Reinig, Laubhütte S. 527) oder von „Biermann seine Oma Meume in Hamburg“ (Wolf Biermann, Laubhütte S. 555) zu erfahren.
Vor allem aus diesen inhaltlichen Gründen ist die bei Piper erschienene Anthologie am wenigsten zu empfehlen. Der Reclam-Band, herausgegeben von Hartmut Laubhütte hingegen bietet auf über fünfhundert Balladen-Seiten und in seinem aufschlussreichen Nachwort inhaltlich mehr als alle anderen. Laubhütte räumt auch Autoren Platz ein, die vielen Lesern unbekannt sein dürften (z. B. Ludwig Hölty, Friedrich Wetzel, Anastasius Grün) und widmet der Gegenwartsballade (z. B. Günter Grass, Christoph Meckel, Ulla Hahn) erfreulich viel Aufmerksamkeit. Die Reclam-Ausgabe im gewohnten, handlichen Format hat ein Lesebändchen und ist trotz seines festen Einbandes leicht, aber auch Reclam-klein gedruckt, so dass ältere Leser die Lektüre mühsam finden könnten.
Der bei Gerstenberg erschienene, liebevoll illustrierte Band „Es war ein König in Thule“ teilt den zur Verfügung stehenden Platz zwischen Balladen, populären Sagen und märchenhaften Erzählungen (Brüder Grimm, Josef Guggenmos, Otfried Preußler u. a.), so dass die Balladen-Auswahl begrenzter ist als Rolf Köhlers „Deutsche Balladen“ (Insel Verlag) von Matthias Claudius („Die Geschichte von Goliath und David“) bis Wolf Biermann („Ballade vom preußischen Hans“). Jede der teils schwarz-weiß, teils farbig, mal blumig-zart, mal karikaturistisch-bissig illustrierten Seiten dieses bunten, großformatigen Bandes ist ein reines Lesevergnügen.
Die Herausgeberin von „Krachen und Heulen und berstende Nacht“, Katharina Diestelmeier, wendet sich mit dem kleinen Band aus der Reihe der Dressler Klassiker auch mit dem lesenswerten Nachwort von Peter Härtling ausdrücklich an Kinder und „erwachsene Mitleser“. Der nach Themenkreisen („Von, Zwergen, Riesen und Zauberkräften“, „Von Treue, Klugheit und Verrat“, „Von großen und kleinen Unglücksfällen“) geordneten, sehr gelungenen Auswahl aus dem Fundus heiterer (August Kopisch „Der Schneiderjunge von Krippstedt“), dramatischer (Arno Holt „Een Boot is noch buten“) und anrührender Balladen (Erich Kästner „Verzweiflung Nr. 1“) ist eine große Leserschaft zu wünschen, die – last but not least – viel Gefallen an den Illustrationen von Katja Gehrmann finden wird. Den preiswerten, handlichen, mit seinem festen Einband sicher auch dem gröberen Zugriff junger Balladen-Leser gewachsenen Band würde ich jeder Bücherei – auch und gerade im Krankenhaus! – ans Herz legen und empfehlen, rechtzeitig zu klären, wer ihn am ehesten finden soll. Die Kinder? Die Senioren? Die Balladen-Entdecker oder die Balladen-Erinnerer? Für alle nämlich ist dieser kleine Band geeignet.
Von den fünf Hörbüchern – „Berühmte deutsche Balladen“, „Des Sängers Fluch“, „Der Feuerreiter“, „25 schauerliche Balladen“ und „Rap trifft Klassik“ kommen nur die beiden letztgenannten in die engere Wahl. Die anderen bieten zwar zu einem günstigen Preis von namhaften Schauspielern gelesene Balladen, aber gerade zu Lyrik-Lesungen sollte ein Booklet selbstverständlich sein, das diese Bezeichnung auch verdient. Stattdessen finden wir beim „Feuerreiter“ außer dem Cover und den Titeln der einzelnen Beiträge nur Werbung für andere „Goyalit“-Publikationen und beim Audio-Verlag lediglich einige Angaben zur Schauspiel- und Gesangskarriere der Rezitatorin Winnie Böwe. Die „25 schauerlichen Balladen“, gesprochen von Frank Suchland und „musikalisch illustriert“ von Oliver Hartmann“ lassen weder in der Auswahl noch in der künstlerischen Gestaltung von Vortrag und akustischer Kulisse Wünsche offen und geben den Hörern mit dem vollständigen Abdruck der Texte in den Booklets die Möglichkeit zum Mit- und Nachlesen.
„Balladen einmal ganz anders“ kündigt der Untertitel der Doppel-CD „Rap trifft Klassiker“ an und verspricht damit nicht zuviel. Gemeinsam mit Thomas D. von den „Fantastischen Vier“ interpretieren Kinder und Jugendliche klassische Balladen und präsentieren zum Beispiel einen „Zauberlehrling“ oder eine „Bürgschaft“, die jung, frisch, frech, aber keineswegs respektlos oder albern wirken. Besonders in Jugendgruppen dürfte mit dieser Interpretation ein neuer, unbeschwerter, eventuell sogar begeisterter Zugang zu den Klassikern der deutschen Balladendichtung möglich werden. Dem Hörbuch sei ein Hitparadenplatz – vielleicht mit dem „Erlkönig“? – gewünscht und Jugendgruppen, Klassen, Konfirmandenfreizeiten viel Vergnügen mit der Karaoke-CD, die in der Cassette enthalten ist.
Rezensent: Birgit Lautenbach
Personen: Diestelmeier, Katharina Gehrmann, Katja Härtling, Peter
Krachen und Heulen und berstende Nacht : Balladen / Ill. von Katja Gehrmann. Nachwort von Peter Härtling. - Hamburg : Dressler, 2006. - 159 S.: Ill. ; 19 cm
ISBN 3-7915-3610-9