Ein erschütternder Bericht über ein Land, in dem es seit Jahrzehnten nichts mehr zu geben scheint als Hunger, Elend, Krieg und Tod.
Rezension
In einem Flüchtlingslager lernt die deutsch-iranische Dokumentarfilmerin Siba Shakib die Afghanin Shirin-Gol kennen. Bereitwillig, offen und ehrlich berichtet diese über ihr Leben, über ihr Verhältnis zu ihrem Mann und über alles, woran sie sich erinnern kann, präzise, detailliert und schonungslos. Dabei sind ihre Geschichte und die Berichte vieler anderer Frauen, die in diesem Buch verwoben sind, nicht ungewöhnlich. Sie erzählen von einem Schicksal, das genauso oder ähnlich Hunderttausende von Frauen in Afghanistan durchleben. – Shirin-Gol, ihr Name bedeutet im Deutschen süße Blume, kommt als neuntes von elf Kindern in einem abgelegenen Bauerndorf Afghanistans zur Welt. Ihre ersten Erinnerungen sehen den Vater, der mit seinen halbwüchsigen Söhnen in den Krieg zieht. Die großen Schwestern meucheln im Dorf die Besatzer mit unvorstellbarer Grausamkeit – "Russen schlitzen" nennen sie es. In Kabul, wohin die restliche Familie flüchtet, geht Shirin-Gol einige Jahre zur Schule, dann wird sie, ein halbes Kind noch, verheiratet und muss mit ihrer eigenen kleinen Familie nach Pakistan fliehen. Immer wieder geraten sie in Stammeskämpfe oder zwischen die Fronten von afghanischen Soldaten, die bisweilen selber nicht wissen, wer da auf sie und auf wen sie ihrerseits zurückschießen. Aber sie schießen, für den Propheten, den Islam und den Koran. Als Shirin-Gol und ihre Kinder nichts mehr haben, verkauft sie ihren eigenen Körper an einen reichen Opiumhändler, wird geschwängert, vergewaltigt und ist wieder auf der Flucht. Eine einheimische Ärztin kümmert sich, doch vor den Taliban kann auch sie nicht schützen. Shirin-Gol: "Wir haben immer unter dem Einfluss der westlichen Welt gelitten und werden es auch in Zukunft tun. Aber was immer die USA und ihre Verbündeten und Freunde mit uns anstellen; es ist besser als das, was…die Taliban, die sie uns geschickt haben, mit uns machen. Die klauen nicht nur unser Uran…sie zerstören unsere Jahrtausende alte Kultur und Tradition. Sie entehren und beleidigen uns" (275f). Erneut macht sich Shirin-Gol auf. Mithilfe des Brautpreises für ihre älteste Tochter gelangt sie mit ihrer inzwischen vierköpfigen Familie in den Iran. Doch nach einigen guten Jahren werden sie auch von dort vertrieben. Wieder ist Kabul ihr Ziel, das sie mehr tot als lebendig auch erreichen. Schon scheint das schrecklichste vorbei, aber es soll noch viel schlimmer kommen. Im Text heißt es dazu: "…dass bald wieder Bomben auf sie, auf Kabul…geworfen werden…dass die Amerikaner zu ihrer Befreiung kommen werden…dass viele von ihnen [den Afghanen] zum soundsovielten Mal in ihrem Leben alles zurücklassen und fliehen müssen…getroffen von Bomben der Amerikaner, die gekommen sind, sie zu befreien" (295). – Dieser, trotz der schrecklichen Tatsachen, mitunter recht poetische Bericht, hilft nachzuempfinden, wie viele Afghaninnen und Afghanen leben und leiden und trotz aller fast unvorstellbaren Geschehnisse doch ihre Menschlichkeit und Würde bewahren können.
Rezensent: Martina Mattes
Personen: Shakib, Siba
Shakib, Siba:
Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen : Die Geschichte der Shirin-Gol / Siba Shakib. - München : Goldmann, 2003. - 318 S. ; 18 cm
ISBN 3-570-00634-4
Einzel- und Familienbiografien sowie Briefe und Tagebücher einzelner Personen aus allen Sachgebieten - Signatur: Bb - Bücher