Rezension
Ein „handfestes“ Kleinkinderbilderbuch mit robusten Pappseiten hat (laut eigener Angabe auf der rückwärtigen Außenseite des Buches) viel vor: Eine kurze Geschichte für jeden Tag im Advent soll gehört und gesehen werden, ein im Buch integrierter Adventskalender mit Türchen soll die Wartezeit bis zum Heiligen Abend verkürzen, und - vom Geheimnis von Weihnachten ist auch die Rede: eine Aufgabenstellung, die es in sich hat! Im Mittelpunkt des Geschehens steht Rica, ein kleines Schaf mit rotem Halsband und goldenem Glöckchen, das mit seiner Herde unter Obhut des Hirten Anton offenbar zur Zeit von Jesu Geburt durch das heilige Land streift und dabei mit dem Herdenhund Mischa (ebenfalls niedliches Plüschtier-Outfit) Freundschaft schließt. Hin und wieder entdecken sie ein helles Licht am Himmel, das sie zu identifizieren suchen. Dabei geschehen einige kleine Missgeschicke. Eine zweite Herde mit gleicher Ausstattung tritt auf, die ebenfalls dem hellen Stern folgt. Es gibt nun also zwei „Glockenschäfchen“, zwei Herden, zwei Hirten, zwei Hütehunde, die plötzlich vom Verkündigungsengel und dessen Botschaft überrascht werden. Die Hirten beschließen, gemeinsam mit allen Tieren nach Bethlehem zu ziehen, treffen allerdings unterwegs noch mit den Königen Kaspar, Melchior und Baltharsar zusammen. Schließlich kommen alle zum Stall – Rica schenkt Jesus sein rotes Halsband mit goldenem Glöckchen. - Zunächst sei die tägliche Geschichte mit den Türchen unter die Lupe genommen. Sie wirkt inhaltlich konstruiert und wird künstlich gedehnt und gestreckt (zweite Herde / Könige u.a.), damit der Text für möglichst viele Türchen reicht. Diese werden von den Kindern sicher gerne geöffnet, die dahinter versteckten Bilder und Texte stellen in der Regel allerdings keine Überraschung, sondern einfach die Fortsetzung der dürren Geschichte dar, die voller Merkwürdigkeiten steckt: Wer einmal der Arbeit eines Hirtenhundes wirklich zugeschaut hat, weiß, dass die Schafe dem Hund gegenüber ängstlich gehorchen. „Beste Freunde“ werden ein Hund und ein Schaf nicht. Zählt der Hirte täglich seine Schafe? Wohl kaum, der Hund hält sie zusammen. Die Tiere tragen anthropomorphe Züge, sind redende Lebewesen, die in ihrem Äußeren Stofftieren nicht unähnlich dargestellt werden. Die traditionelle Adventskalenderfunktion ist nicht schlüssig; sie verkommt als Gag zur Türchen-öffne-dich-Aktion ohne besonderen Wert. Und nun zum „Geheimnis von Weihnachten“, mit dem der Klappentext verkaufsfördernd wirbt! Die biblischen Begebenheiten werden willkürlich zusammengewürfelt und in eine menschelnde Hirtengeschichte hineingeschoben. Da treffen sich zwei befreundete Hirten und ziehen mit allen Tieren zum Stall. Hirten und Könige machen sich's erst einmal gemeinsam am Feuer gemütlich. Die Geschenke der Könige werden gezeigt, aber nicht erklärt. „Da ist er, der neugeborene König! Jesus liegt in einer Krippe. Alle sind ganz still geworden und schauen ihn an. Zaghaft macht Rica ein paar Schritte nach vorne und stellt sich ganz nah neben Jesus.“ Diese merkwürdige Verschmelzung von Kindergeschichte und Bibelwort beschließt das befremdend wirkende Kinderbilderbuch. Ich kann dieses Bilderbuch nicht zur Anschaffung in evangelischen Büchereien empfehlen, weil es in mancher Hinsicht deutlich gegen grundlegende Erkenntnisse der religionspädagogischen Forschung der letzten Jahrzehnte verstößt. Eine scheinbar kindgerechte Geschichte, deren Protagonist ein lebendig gewordenes Stofftier der heutigen Spielzeugbranche (Merchandising lässt grüßen!) darstellt, wird unzulässig verwoben mit aus dem Zusammenhang gerissenen und beliebig kombinierten Textzitaten der neutestamentlichen Überlieferung der Geburt Jesu. Diese wird ohne jede weitere Erklärung einfach als Setzung eingeschoben. Sie soll der dürftigen Geschichte offenbar weihnachtliches Flair verleihen und damit wohl – kommerziell interessant - auf dem „Weihnachtstisch“ der Buchhandlungen landen. Der alte Brauch, Kindern im Advent durch einen Spezialkalender mit kleinen Überraschungen die Wartezeit bis zum Heiligen Abend zu verkürzen, geht in diesem Bilderbuch verloren. Die Kinder erhalten keinen Überblick über den vor ihnen liegenden Zeitraum im Advent, der normaler Weise durch die immer kürzer werdende Päckchen- oder Kästchenkette, durch immer mehr geöffnete Türchen oder Ähnliches optisch vermittelt, wie nah der Heilige Abend nun schon ist. In Bezug auf weihnachtliches (und anderes) Brauchtum gilt nach wie vor die Forderung, Herkunft und Sinn von Bräuchen erfahrbar werden zu lassen, sie jedoch deutlich von der eigentlichen Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes abzugrenzen, weil sie sich allzu leicht verselbständigen und das Eigentliche verdecken.
Biblische Texte im Kleinkindalter sollten – wenn überhaupt – als einfache Geschichten so bibelnah wie möglich und so kindgemäß wie nötig als sehr alte Geschichten erzählt und erklärt und eben gerade nicht „vernebelt“ werden. Eine Vermischung der Kinderspielzeugfiguren und deren mühsam konstruierten „Erlebnissen“ einerseits und biblischen Gestalten in uralten Glaubensüberlieferungen
andererseits ist meines Erachtens völlig unzulässig, weil dieses Vorgehen späteren sachgerechten Umgang mit biblischen Texten erschwert.
Rezensent: Margot Rickers
Personen: Simon, Katia Ignjatovic, Johanna
Rica und der helle Stern : Ein Adventskalenderbuch mit 24 Türchen / Katia Simon. Ill. von Johanna Ignjatovic. - Lahr : Kaufmann, 2010. - o. Pag. : überw. Ill. ; 21 cm
ISBN 978-3-7806-0681-5
Bilderbücher (einschl. Märchen- u. Sachbilderbücher) - Signatur: Jm 1 - Bücher