Eine Erzählung aus der Kolonialzeit in Surinam über Sklaverei, Rassismus und Diskriminierung.
Rezension
„Heute werde ich 12“ beginnt Maria zu erzählen. Auf der Schwelle zum Erwachsenwerden träumt sie davon, endlich einen Busen zu haben. Sie bekommt viele Geschenke und darf zum ersten Mal Champagner trinken, ein naives, verwöhntes Mädchen aus besseren Verhältnissen. Doch dann bekommt das harmonische Bild erste Risse und dem Hörer stockt der Atem. Sklaven haben für Maria gesungen und getanzt, sie sieht, wie schwarz sie sind und „wie schön weiß ich bin“. Wir befinden uns auf einer Teeplantage in Surinam, dem Niederländisch - Guyana des 19. Jahrhunderts. Zum Festessen bekommt Maria ihr Hauptgeschenk. Vier Sklaven stellen eine große, silberne Terrine auf den Tisch. Darin hockt Koko, ein siebenjähriger Junge, nun Marias Sklave. Jetzt weiß sie auch, welche Bedeutung die Peitsche hat, die ihr geschenkt wurde und die leider, leider nicht in die schicke neue Damenhandtasche passt.
In 40 kurzen, tagebuchähnlichen Episoden erzählt Maria von ihrem Alltag und zeichnet so ein Bild vom Leben und der Einstellung der reichen, weißen Plantagenbesitzergesellschaft. Die Weißen fühlen sich nur auf Grund ihrer Hautfarbe völlig überlegen. Die Sklaven haben ihrer Bequemlichkeit zu dienen, sie sind Zielscheibe für schlechte Laune, für Langeweile, Aggression, sind sexuelles Lustobjekt. Maria hat die Umgangsweise mit Sklaven von Eltern und Verwandten ganz selbstverständlich voll übernommen. Sie kann Koko ungerührt verkaufen, als er ihr zu langweilig wird. Sie kann lustvoll ihren Nachtisch löffeln, während die Schmerzensschreie eines ausgepeitschten Sklaven in den Raum dringen. Sie kann die neue Sklavin auspeitschen, weil sie zu langsam arbeitet. Sie kann mit den Tanten darüber lachen, dass ihre Mutter aus Eifersucht Vaters Lieblingssklavin so zugerichtet hat, dass sie fortan nur noch „die Narbe“ heißt.
Maria ist ihr unmenschliches Verhalten überhaupt nicht bewusst. Sie fühlt sich in jeder Situation überlegen und stellt diese Überlegenheit nie in Frage. Weder bei ihr noch bei den Erwachsenen kommt es zu einer Reflexion ihres Verhaltens. Maria denkt nicht nach, sie stellt keine Fragen, vielleicht, weil sie auf ihre Fragen doch keine befriedigende Antwort bekommen würde, so wie bei ihrer Frage nach Zeugung und Geburt. Verdrängungen und Verklemmung prägen das Leben eben auf vielen Gebieten und sind Ursachen von Gewalt und Aggression. Und alle Verzweiflung erschöpft sich im Sticken von Kissen und in gerader Haltung, denn: „nichts ist so schlimm für ein Mädchen wie eine schlechte Haltung.“
Die Sprecherin Laura Tonke hat genau die richtige Stimmlage für Marias Erzählungen. Bei ihr klingt das kindlich Naive, Träumerische genau so überzeugend wie das Wütende, Brutale, Berechnende.
Den Hörer nimmt diese Erzählung sehr mit. Der ungerührt naive Erzählton, die kurzen, einfach gebauten Sätze wollen so recht nicht zu dem passen, was da Unglaubliches erzählt wird. Wir können uns mit Maria nicht identifizieren, aber da ist auch sonst niemand, der etwas gerade rückt. Es gibt keinerlei Wertung. Die einzelnen Szenen bleiben für sich stehen. Sie sind so eindeutig, dass sie moralisierende oder pädagogisierende Einschübe überflüssig machen, aber dem Hörer das Weiterdenken nicht abnehmen. - Bedenkenswert ist auch das vom Autor selbst gesprochene Nachwort, in dem er seine persönlichen Erlebnisse in Surinam und seine Gedanken zum Erinnern von Geschichte darlegt.
Rezensent: Heidrun Martini
Personen: Verroen, Dolf Tonke, Laura
Verroen, Dolf:
Wie schön weiß ich bin : Ungek. Lesung / Dolf Verroen. Gelesen von Laura Tonke. - Hamburg : Hörcompany, 2006. - 1 CD; 50 Min.
ISBN 3-939375-04-7
Erzählungen (ab 13 Jahre) - Signatur: Ju 3 - Hörbücher