Anfänge kann er. Das erste Kapitel von John Boynes Roman „Mein Bruder heißt Jessica“ ist geradezu grandios getaktet: In einer Rückschau des mittlerweile 13-jährigen Ich-Erzählers Sam auf den dramatischen Beginn seines Lebens wird die Beziehung zweier Geschwister inszeniert als Steigerungsfolge spektakulärer Unfälle. Da rennt sich das ältere Kind in seiner Liebe für das jüngere dreimal ganz wörtlich den Kopf ein. Die Narbe, die es nach dem letzten Unfall davonträgt, weil es im nächtlichen Krankenhaus Hilfe für den vermeintlich sterbenden Baby-Bruder holen wollte und dabei über das Kabel eines Infusionsständers stolperte, zeugt für Sam seither von der bedingungslosen Liebe jener Person, die er wiederum mehr als alle anderen Menschen bewundert – und die er in seinem Bericht durchgängig und geradezu litaneihaft als „mein Bruder Jason“ bezeichnet. Was in diesem Frühstadium des Romans noch ergreifend klingt, entfaltet im Lauf der Lektüre zusehends beklemmende Wirkung; hier dürfte der Titel ein deutliches Warnsignal sein. Denn als seinen „Bruder Jason“ will Sam seine inzwischen 17-jährige engste Vertrauensperson auch dann noch sehen, als Jessica längst und wiederholt betont hat, dass sie nicht Sams Bruder, sondern seine Schwester ist. Nun gelten für den literarischen Diskurs eigene Regeln, und Sams Deadnaming, sein starres Festhalten am Namen und am Geschlecht, die seiner Schwester bei der Geburt zugewiesen wurden, sind vorderhand einmal als Figurenrede zu beurteilen. Dass sich der Teenager, dessen unzweifelhafte Männlichkeit und Heterosexualität im Text beständig und ziemlich penetrant bestätigt werden, zunächst schwertut, die für ihn neue Identität Jessicas anzuerkennen (die als Figur im Übrigen nie recht greifbar wird), mag auf Ebene der erzählten Geschichte einleuchten und eine gesellschaftliche Problematik ansprechen. Es korrespondiert aber nicht nur mit dem kompletten Unverständnis der Eltern, die als stets nur auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit bedachte Kabinettsministerin und ihr Privatsekretär völlig überzeichnet werden, sondern mit den feindseligen, ignoranten und verletzenden Reaktionen fast aller anderen Figuren. An ihnen rennt sich Jessica bis zum völlig aus dem Nichts kommenden Happy End wieder und wieder den Kopf ein. Und spätestens damit verliert rückblickend auch der Anfang dieses von traurigen Klischees strotzenden Texts seinen Charme.
Altersempfehlung: ab 12 Jahren.
Personen: Boyne, John
Boyne, John:
Mein Bruder heißt Jessica : Roman. - Frankfurt a. M. : Fischer KJB, 2020. - 253 S.
ISBN 978-3-7373-4219-3 fest geb. : EUR 14,00
Romane und Erzählungen für Jugendliche ab 12 Jahre - Signatur: Boyne - Buch