Murail, Marie-Aude
Ein Ort wie dieser
Kinderbücher

Es ist ein Rätsel. Wie macht diese Autorin das? Jedes neue Buch ist auch eine neue Enthüllung, immer gibt es nur Bestnoten und Preise - das ist doch fast langweilig. Ja, aber nur fast! Auch diesmal ist ihr eine faszinierende Geschichte gelungen, eine, die den Leser noch tagelang beschäftigt, nachdem sie ihn beim Lesen schon minutenlang in Tränen hat versinken lassen. Ich gestehe es offen: Ich bin süchtig nach Murails Büchern. Worum geht es diesmal? Cécile hatte schon als Kind den Traum, später einmal als Grundschullehrerin vor atemlos lauschenden Schülern zu stehen und sie zu unterrichten. Nun ist sie 22 Jahre alt, hat ihre Ausbildung beendet und tritt ihre erste Stelle an, in einer unscheinbaren Innenstadt-schule in ihrer Heimatstadt. Leider entpuppt sich die Realität als nicht ganz so ideal wie ihre Träume. Direktor und Kolleginnen sind sehr reserviert, die ihr zugeteilte erste Klasse erweist sich als buntes Gemenge verschiedenster Probleme, Störungen und Behinderungen, und die Eltern scheinen auch nicht durchweg begeistert von der "Neuen". Das wäre vielleicht nicht so schlimm, wenn Cécile selbstbewusst und autoritätsbegabt wäre. Doch das ist sie nicht. Sie ist eher schüchtern, unsicher und mehr wie eine große Schwester der Kinder. Die haben es aber auch in sich: Da gibt es pöbelnde Rabauken, sprachgestörte Vernachlässigte, "höhere Töchter" mit familiären Problemen, fernsehsüchtige Modepüppchen, lernbehinderte Jungen und vor allem mehrere Asylantengeschwister, deren Eltern mit ihnen vor Terror und Verfolgung aus der Elfenbeinküste geflohen sind. Eine Sammlung, die auch erfahrene Altlehrer fordern würde. Und nun ein Neuling ohne Erfahrung? Doch das Erstaunliche gelingt. Cécile findet einen Zugang zu den Kindern, wie er nicht ungewöhnlicher sein könnte. Mehr und mehr wachsen sie und die Kinder zu guten Freunden zusammen, misstrauisch beäugt vom Kollegium und auch manchen Eltern und Hilfskräften der Schule. Ihre Methoden sind zwar "vom eigenen Mist", aber sie scheinen zu funktionieren. Dann sagt sich auch noch der Schulinspektor zu einem Kontrollbesuch an, aufgehetzt von Fachkollegen. Kann das gutgehen? Das bleibt aber nicht das einzige Problem. Die afrikanische Großfamilie, die noch auf ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge wartet, zieht rassistische Feindschaft auf sich, Geschäftsleute sind auf die Schließung der Schule erpicht, der Wunsch nach einer Beziehung und menschlicher Nähe will sich nicht erfüllen und zu allem Überfluss gibt es mit vielen Bekannten und sogar der eigenen Familie Probleme, die nicht im Alleingang zu lösen sind. Eigentlich Grund genug aufzugeben und sich aus dem ganzen Kuddelmuddel zu flüchten. Doch die Dinge entwickeln sich ganz anders als gedacht, und vielleicht gibt es ja doch einen Weg zu einem wenigstens kleinen Glück? Murails Geschichten sind stets echte Ge-"Schichten", nie wird nur ein Handlungsstrang präsentiert und mehr oder weniger erfolgreich abgehandelt, immer bilden sich unverhoffte Nebenstränge, die manchmal sogar zum Epizentrum werden und für ordentliche Erschütterungen sorgen. Und auch wenn man, bei einem Kinderbuch, von einem letztlich guten Ende ausgehen kann - es kommt im-mer anders als man denkt. Und keine der Personen verlässt die Seiten des Buches, ohne verwandelt worden zu sein. Das gilt auch für den Leser. Ich habe mich beim Lesen oftmals an Erich Kästner erinnert gefühlt. Nicht, dass die Geschichte irgendwo dupliziert wäre, aber so viel unaufdringliche Herzenswärme, ein so lakonischer Umgang auch mit großen Gefühlen, die dadurch umso wahrhaftiger werden, durchaus auch ein zutiefst moralisches Empfinden ohne Zeigefinger und Bigotterie - das hatte auch EK. Und, so war es auch bei den Vorgängerbüchern: Je emotionaler es wird, je größer und tiefer die Gefühle eigentlich sind, umso zurückgenommener wird die Sprache, verzichtet auf Breitwand und Ausleuchtung, überlässt dafür dem Leser das Mitgefühl als aktive, nicht vorprogrammierte Eigeninitiative. Da bleibt es nicht aus, dass man schon mal eine Zeitlang unterbrechen muss, weil die Augen die Buchstaben nicht mehr klar erkennen können. Das, was hinter den Buchstaben liegt, erkennt man dafür umso besser. Die Botschaft dieses Buches verrät nichts über den Handlungsverlauf. Sie lautet "Angst macht stark, auch Kleine leisten Großes" und, mit der bekannten Redensart: "Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum". In den 1970er Jahren nannte man so etwas "Moralische Aufrüstung", so militärisch muss man das gar nicht sagen, aber dieses Buch baut auf. Gut so!


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Murail, Marie-Aude Scheffel, Tobias

Murail, Marie-Aude:
Ein Ort wie dieser / Marie-Aude Murail. Aus dem Franz. von Tobias Scheffel. - Frankfurt a. M. : Fischer KJB, 2014. - 410 S.
ISBN 978-3-596-85627-5 fest geb. : ca. Eur 17,50

Zugangsnummer: 0052909001
Familie - Signatur: JE.F Mura 12 - Kinderbücher