2500 Kilometer unterwegs zu sich Martin Prinz geht "Über die Alpen" Schriftsteller denkt man sich dem Klischee nach eher mit Zigarette ins Café als mit Rucksack und Pickel ins Hochgebirge - und wenn es schon ein Berg sein muss, dann genügt sein pittoresker Anblick von der Hotelterrasse oder vom Spazierweg rund um den Altausseer See aus. Dieses Bild traf bereits in der klassischen Zeit der Sommerfrische nicht auf alle Schreibende zu, Arthur Schnitzler etwa, dem man schon physiognomisch eher dem Kaffeehaus zuzurechnen meint, bewältigte zu Fuß respektable Touren und am Rad mehr als beachtliche Etappen auf gebirgigen Straßen und Wegen. Schnitzler mag mit seinen sportlichen Leistungen eine Ausnahme gewesen sein und der Spaziergang, wie uns die Tagebücher der Schreibenden berichten, die dem Berufsstand adäquate körperliche Betätigung darstellen. Aus diesem langsam schreitenden Durchschnitt scheren aber immer wieder Einzelne aus, die anstrengendere Möglichkeiten der Fortbewegung und ihre Literarisierung versuchen. Der Filmberserker Werner Herzog veröffentlichte 1978 das Tagebuch einer frühwinterlichen Wanderung von München nach Paris ("Vom Gehen im Eis"), Günter Herburger machte seine Leidenschaft des Marathonlaufens mehrmals zu Literatur (u.a. "Lauf und Wahn", 1988), und Bodo Hell gelang 1977 eine künstlerisch schlüssige und beeindruckende Verknüpfung von Bergsteigen und Schreiben ("dom. mischabel. hochjoch"). Wenn sich nun der Schriftsteller Martin Prinz im Juni 2008 daran gemacht hat, den gesamten Alpenbogen in einem Weitwanderweg auf insgesamt 2500 Kilometern von Triest nach Monaco abzugehen, und im Frühjahr 2010 ein 460 Seiten dickes Buch über diese Monstertour vorlegte, könnte man meinen, "Über die Alpen" in diese Reihe der "Extremliteratur" einordnen zu können. Bis zur ersten Textseite wird dieser Reflex bestärkt, werden dort doch in Motti die großen Geher Werner Herzog und Robert Walser heraufbeschworen. (Bei dem Walser-Zitat aus dem "Spaziergang" fiel mir sogleich der Spruch "Das ist kein Spaziergang" ein, der auf Prinz' Wegwahl mehr als zutrifft: 2500 Wegkilometer, 130.000 Höhenmeter.) Nach wenigen Seiten der Lektüre wird jedoch klar, dass sich Prinz nicht in diese Vorgänger einreiht, nicht die künstlerisch-ästhetische Bewältigung der physischen Leistung im Vordergrund steht, sondernà Hier kommt man ins Stocken, denn dieses Buch ist ein Hybrid, will vieles zugleich sein. Die Hybridität beginnt damit, dass das Buch nur ein Teil der medialen Umsetzung ist, Prinz lieferte während der monatelangen Weitwanderung für die Lifestyle-Beilage einer Tageszeitung Berichte von unterwegs - die er im Buch immer wieder zitiert. Des Weiteren gibt es einen Facebook-Eintrag mit Video-Trailer zu "Über die Alpen", der schon eine Menge Freunde hat ("117 Personen gefällt das", Stand Anfang August 2010) und am 8. Juli freudig den ersten Verriss des Buches verkündete. Hybrid ist auch die Unentschiedenheit zwischen Literatur und Sachbuch (der Radiosender Ö1 lud den Autor im Juli zu einem Gespräch in seine Sachbuchsendung). Der Autor denkt zum einen an eine Auseinandersetzung mit den Alltäglichkeiten unterwegs sowie den verschiedenartigen grundlegenden oder privaten Fragestellungen, die ihn beschäftigten, zum anderen will er sachliche Fragen wie die Urbanisierung im Alpenraum oder die Verstrickung dieser Region in globale Phänomene abhandeln. An beiden Enden dieses versuchten Spagats gibt es Irritierendes, dazwischen finden sich aber auch Passagen, in denen dem Autor dichte poetische Bilder gelingen und er die Probleme und Phänomene seiner speziellen Arbeits- und Schreibsituation tiefgehend schildert. Irritierend sind einerseits die langen und häufigen Zitate aus Werner Bältzings "Die Alpen". Das Buch erschien in erster Version bereits 1984 und stellt mit seiner Überarbeitung aus dem Jahre 2003 längst ein Standardwerk dar, es begegnet jedem an der Materie Interessierten. Wenn man sich also über die Urbanisierung der Alpen, über das Verschwinden der Agrarlandschaft und die Umwandlung in eine Freizeitlandschaft informieren will, sollte man sich gleich an Bältzings Buch wenden, ein Werk, das einen, wie Martin Prinz in einer Rezension auf www.readme.cc schreibt, "so schnell nicht loslässt und den Blick darauf verändert, was man als Alpenlandbewohner über Heimat zu wissen glaubt". Der Schnellgeher Prinz hinkt hier den vielen - auch künstlerischen - Arbeiten, die die prekäre Lage der Alpenregion beleuchten, hinterher. Für Irritation sorgen kann bei der Lektüre andererseits die große Offenheit, mit der hier über höchst Privates geschrieben wird: Der Ich-Erzähler beschließt während der Wanderung, sich endgültig von seiner von ihm schwangeren Freundin zu trennen, und trifft mitten in dieser Vorbereitung auf eine unkonventionelle Vaterschaft am Weg seine neue Liebe. Dass diese dicke Packung amouröser und generativer Verstrickungen dem Leser "ungeschminkt" präsentiert wird, ist natürlich narrative Strategie und dient einem offensichtlich hohen Authentizitätsbegehren. Es mag sich um eine persönliche Empfindlichkeit handeln, aber den genauen Namen der großen Liebe oder Details des Heiratsantrags, von denen man durch Prinz' Erzählposition annehmen muss, dass sie authentisch sind, hätte man lieber nicht erfahren, das ist rein privat. Dabei ist auch diese Offenheit ambivalent, denn die Direktheit, mit der der Ausdauersportler Prinz retrospektiv etwa über seine Schwächen und kindischen Bosheiten ("Mountainbiker-demütigen") schreibt, macht diesen manischen Geher sympathisch. Und mit der Nennung des Namens seiner neuen Gefährtin will er offensichtlich den für ihn wichtigen Anregungen, die von ihrer wissenschaftlichen Arbeit zur alpinen Regionalentwicklung ausgehen, Respekt zollen. Offen legt der Erzähler auch die Schwierigkeiten, die Materialmischung aus Alpenforschung und Selbstfindung schreibend in den Griff zu bekommen. Das macht das Unentschiedene des Buches nicht besser, aber das Unternehmen, ja, sympathischer. Und das Buch entwickelt sich über die Dutzenden Pässe hinweg von einem Alpenerklärungsbuch mit manch überangestrengtem Bild ("Schmerzpunkte heutigen Lebens"; "Maschinerie aus Anstrengung, Müdigkeit und Kraft") und manchem Lektoratsmangel ("postindustrialisiert", "unübersehbar steil") hin zu einem Selbsterklärungsversuch und gewinnt dabei; der Autor sieht zusehends klarer, dass "es beim Schreiben über diese Reise viel mehr um die richtigen Fragen als um Antworten gehen sollte". Was und wie man bei diesem Fragestellen in Prinz' leichter, unangestrengter Prosa über den Arbeitsplatz Alpen erfährt, gehört zu den Stärken des Buches. Der Autor bindet sich mit seiner Schreibarbeit in diesen prekären ökonomischen Raum ein, das wichtigste Arbeitsgerät ist ein an das Mobilfunknetz angeschlossener "Communicator", wobei sich zeigt, dass im 21. Jahrhundert nationale Grenzen längst kein Problem mehr darstellen - Prinz schreibt von 44-maliger Grenzüber-schreitung -, vielmehr die Demarkationen der nationalen Mobilfunknetze zu Kalamitäten wie vierstelligen Beträgen in der Telefonrechnung führen können. In einem Radiointerview sprach Martin Prinz davon, den Roten Weg der Via alpina irgendwann, in einem fortgeschrittenen Lebensabschnitt, wieder gehen zu wollen - bis dahin wird er wohl auch eine Antwort gefunden haben auf die hier gegen Ende gestellte "Frage, welches Buch es werden könnte".
Personen: Prinz, Martin
Prinz, Martin:
Über die Alpen : von Triest nach Monaco - zu Fuß durch eine verschwindende Landschaft / Martin Prinz. - 1. Aufl. - München : C. Bertelsmann, 2010. - 461 S. : Ill. : Kt.
ISBN 978-3-570-01053-2 fest. fest geb. : ca. Eur 23,60
Europa - Signatur: EL.E Prin Abenteuer - Romane Belletristik