MINT-Buch des Monats Mai 2024 Espe zieht mit ihren Eltern, zwei Wissenschaftler*innen, und ihren Geschwistern aufs Land. Auf dem Weg dorthin hat die Familie einen Autounfall und die 16-Jährige sieht plötzlich Bilder, die vermutlich aus der Zeit vor ihrer Adoption stammen. Auch nach dem Unfall bietet das neue Heim keinen unbeschwerten Neuanfang. Als Mutter und Vater verhaftet werden und sie plötzlich zu den Experimenten ihrer Eltern befragt wird, stellt sich das Mädchen immer mehr die Frage, ob sie ihren Erinnerungen trauen kann. Die Hinweise verdichten sich, dass ein Teil ihrer Kindheit nicht mehr abrufbar ist … "Nachdem Espe die Wahrheit über ihre Familie erfährt, wird sie sich entscheiden müssen. Wie, bleibt bis zum Schluss offen: „Ich kenne die Fakten. Ob ich die Erinnerung zurückhaben will, weiß ich nicht. Dazu braucht es Zeit. Wochen, Monate oder Jahre. So lange, bis ich weiß, wer ich sein will, wo in dieser Welt mein Platz ist.“"(S. 295) Tobias Elsäßer ist bekannt für sein Gespür für zeitgemäße, fundierte recherchierte Themen, die er mit viel Spannung und Dramatik jugendliterarisch umsetzt. Mit „Mute“ liegt ein weiterer Roman von ihm vor, in dem er neue Bio-Technologien und die Verantwortung, die ethisch damit einhergeht, originell zum Thema macht. Die sogartige, thrillerhafte Spannung entsteht dabei nicht zuletzt durch die Familiendynamik, die auf besondere Weise changiert: Nach der Verhaftung der aus ihrer Sicht liebevollen Eltern kämpft Espe darum, dass die Familie zusammenbleiben kann – aber vielleicht sind die Eltern doch nicht so unschuldig, wie sie glaubt? In der literarischen Umsetzung passt sich der Roman dabei dem Widerstreit an zwischen den noch ungeklärten Fragen und Chancen an, die mit vielen der neu aufgekommenen biotechnologischen Ansätze mitschwingen. Der Text wechselt immer wieder zwischen dokumentarisch-protokollarischem Stil, Außenperspektiven, persönlichem Tagebuch und Ich-Erzählung. So wird auch formal verstärkt, was thematisch verhandelt wird: die Frage danach, wie wir leben wollen – individuell und ein Stück weit beschädigt, oder fit und narbenlos – aber „gemutet“. LESEN – SPRECHEN – TUN LESEN – Das Buch ist mit der 16-jährigen Protagonistin einem etwas älteren jugendlichen Lesepublikum gewidmet. Passend zur Adressierung können die unterschiedlichen Textformen, die im Roman enthalten sind, untersucht und bewertet werden. Welche Möglichkeiten bieten die unterschiedlichen Gattungen? Welche Form bringt vor allem Faktisches zutage? Wo finden sich Meinung, Kommentar, Erörterung? Wo unterstützen auch journalistische Fragen tendenziöse Berichterstattung? Wie würde sich das Erzählte verändern, wenn es in einer anderen Textsorte wieder gegeben wird? SPRECHEN – Zunächst bleibt rätselhaft, was genau mit Espes Eltern und ihrer Kindheit ist. Auch das Dorf, in dem sie leben, sucht nach der Wahrheit, die hinter der Verhaftung der Eltern steckt. Sind sie Verbrecher*innen oder Anhänger*innen einer Sekte? Anfangs bietet sich daher an, genau darüber zu sprechen: Was könnte hier passiert sein? Danach empfiehlt es sich, die schwierigen Fragen, die im Buch eine wichtige Rolle spielen, mit den Jugendlichen zu diskutieren: Wie weit dürfen bzw. sollen Technik und Medizin gehen, um uns ein gutes Leben zu ermöglichen? Wo sind Legitimität und Grenzen biotechnologischer Eingriffe? Welche dieser Aspekte sollen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, also durch Gesetze, reguliert werden, was soll individuell entschieden werden können? TUN – Ein von Tobias Elsäßer produzierter Buchtrailer führt gut in die Geschichte ein: https://www.youtube.com/watch?v=Ljz9drqMrPk. Nach dem Sehen können eigene Erinnerungen erforscht werden oder auch ein Fotoalbum der Familie durchforstet werden: Welche Erinnerungen werden in der eigenen Familie gern tradiert? Welche gemeinsamen Geschichten gibt es? Was sind meine eigenen ersten Erinnerungen? Wenn in der Gruppe eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre herrscht, können auch heiklere, sehr persönliche Themen angeschnitten werden: welche meiner Erinnerungen würde ich vielleicht lieber „muten“, wenn ich die entsprechende Technologie zur Verfügung hätte? Wie würde sich mein Leben, meine Persönlichkeit verändern, wenn diese Erinnerungen gelöscht wären? Im Nachwort von „Mute“ legt der Autor offen, dass er sich von realen biotechnischen Verfahren inspirieren ließ, aber vieles auch künstlerisch frei interpretiert beziehungsweise weitergesponnen hat. Ein zweiter handlungsorientierter Ansatz könnte den Fokus auf die Recherche dazu legen. Was ist Biotechnik überhaupt und womit beschäftigen sich die Rote, Weiße bzw. Grüne Biotechnologie? Wie sieht der aktuelle Wissenschaftsstand aus und welche Erkenntnisse prägen bereits unseren Alltag? Welche Dinge, die heute noch undenkbar sind, könnten schon in näherer Zukunft tatsächlich umsetzbar sein? *STUBE Jana Sommeregger*
Personen: Elsäßer, Tobias
Elsässer, Tobias:
Mute : Wer bist du ohne Erinnerung? / Tobias Elsässer. - München : Carl Hanser, 2024. - 299 S.
ISBN 978-3-446-27920-9 kart. : EUR 17,50
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Signatur: Elsäs - Buch